Prozessdoku 22. Mai 2025

Prozesstag 3 und 4: Aufarbeitung der rassistischen Ausschreitungen 2018 in Chemnitz

Im Verlauf der letzten beiden Verhandlungstage am 20. und 21. Mai 2025 sagten insgesamt acht Zeug*innen zum Tatgeschehen am ersten von drei Tatorten aus, die Gegenstand des Verfahrens sind. Die Zeug*innen hatten sich am 1. September 2018 im Bereich der Kreuzung Moritzstraße/Annaberger Straße am Rand der Chemnitzer Innenstadt aufgehalten und wurden dort Ziel der Angriffe einer aus Richtung Bahnhofstraße kommenden Gruppe, Teil derer mutmaßlich die vier Angeklagten waren.

Jugendverfahren (1080 x 400 px).png

Der dritte Prozesstag begann um 09:20 Uhr mit der Vernehmung des ersten Geschädigtenzeugen. Der Mann hatte sich nach eigener Aussage am Tattag allein in der Stadt bewegt und erlitt im Zuge eines tätlichen Angriffs aus der Gruppe der Angeklagten heraus Verletzungen um das Auge herum an seiner Schläfe nach einem Faustschlag ins Gesicht, die im Nachgang genäht werden mussten. Weiterhin wurde seine Brille zerstört. Der Zeuge konnte sich nur in geringem Maß an das Geschehen am Tattag erinnern und erinnerte sich auch nicht an im weiteren Verlauf durch die Vorsitzende verlesene Passagen aus dem Protokoll einer polizeilichen Vernehmung an der er im November 2018 teilgenommen hatte. Gefragt nach der Wahrnehmung eines anderen Zeugen, dass der Geschädigte am Tattag zur angreifenden Gruppe gehört habe und Opfer einer Verwechslung wurde, konnte der Zeuge sich ebenfalls nicht erinnern, ob er vor dem Angriff Teil dieser Gruppe gewesen war. Während der Vernehmung bat die Verteidigerin des Angeklagten Marvin C. dem Geschädigten 30 Euro in bar im Namen ihres Mandanten als Entschädigung für seine zerstörte Brille inklusive Zinsen über die Jahre seit der Tat an, betonte jedoch, dass es sich bei diesem Angebot nicht um ein Schuldeingeständnis handele. Der Zeuge nahm dieses Angebot schließlich an.

Im Verlauf des Tages sagten vier weitere Zeugen aus. Diese berichteten größtenteils übereinstimmend, dass sie sich aus der Moritzstraße kommend als Teil einer losen Gruppe von ehemaligen Teilnehmer*innen der Kundgebung unter dem Motto "Herz statt Hetze" auf die Annaberger Straße begaben und die Gruppe dort beim Überqueren der Straße angegriffen wurde. Zwei der Zeugen beschrieben, dass die auf sie zurennenden Angreifer dabei ihre Gruppe als "Zecken" bezeichneten. Alle schilderten, dass die Angreifer nachdem sie in der Gruppe eine Person mit einem Schild ausgemacht hatten, dieses der tragenden Person entrissen und auf den Boden warfen. Drei der Zeugen konnten sich auch an das Entreißen einer bunten Fahne mit "peace"-Motiv erinnern. Weiterhin wurde von Aussagen der Angreifer wie "unsere Leute werden abgeschlachtet und ihr feiert", "Adolf Hitler unser Führer" oder einen auf "Adolf Hitler Hooligans" endenden Ausruf berichtet.

Auch am vierten Prozesstag sagten, beginnend um 09:10 Uhr, wieder Zeug*innen zum Geschehen an diesem Tatort aus. Die am 21. Mai 2025 vernommenen vier Zeug*innen waren gemeinsam mit einer bereits am Vortag geladenen Person am 1. September 2018 gemeinsam nach Chemnitz für die "Herz statt Hetze"-Demonstration angereist und damals auf dem Rückweg zu ihrem Auto, als sie angegriffen wurden. Auch diese Zeug*innen erinnerten sich größtenteils übereinstimmend mit den am Vortag Vernommenen an das Geschehen am Tattag und das aggressive Auftreten der Gruppe der die Angeklagten Neonazis mutmaßlich zugehörig waren. Sie beschrieben wieder das entwenden eines Schildes und einer Fahne, sowie, dass in diesem Zug eine Person aus ihrer Gruppe durch einen Angreifer gegen den Kopf gestoßen und möglicherweise zu Boden gebracht wurde. Einzelne Zeug*innen berichteten auch davon, dass sie als sie sich aus der Situation entfernen konnten im Zurückschauen beobachten konnten, wie die Gruppe der Angreifer ihre Angriffe auf weitere Gruppen in der Moritzstraße fortsetze. Die Zeug*innen betonten auch erneut die Angst, die sie in der Situation des Angriffs und danach gespürt hatten, die mutmaßliche Gruppe der Angeklagten nahmen sie dabei durchgehend als gezielt bedrohlich auftretend wahr.

Unterschiede in den Erinnerung der Zeug*innen an das Geschehen am Tattag lagen vor allem hinsichtlich der Größe der Gruppe der Angreifer vor. Manche Zeug*innen sprachen von einer Gruppe von 10-20 Personen, ein Zeuge schätzte die Zahl auf über 20 Angreifer. Auch gab es bzgl. der Personenanzahl unterschiedliche Aussagen dazu, ob die Angreifer von Anfang an als geschlossene Gruppe auf die Betroffenen zustürmten oder sich eine kleinere Anzahl an Personen aus der Angreifergruppe löste. Hinsichtlich dieser Einschätzungen betonten die Zeug*innen jedoch auch die hektische und bedrohliche Situation als maßgeblich dafür, dass eine genauere Einschätzung oder gar Zählung nur schwer möglich war. Auch die lange Dauer zwischen der Tat und der Vernehmung im Verfahren wurde mehrfach als Problem hinsichtlich der Verlässlichkeit und dem Vorhandensein von genaueren Erinnerungen an das Geschehen genannt.

Im Rahmen der Vernehmungen benannte der Großteil der Zeug*innen an beiden Tagen jedoch klar eine aus der Gruppe der Angreifer als besonders aggressiv und tonangebend hervorstehende Person, die sie jeweils auch eindeutig als den Angeklagten Lasse Richei im Gerichtssaal wiedererkannten. Dem Angeklagten wurde dabei auch Beleidigungen der Geschädigten sowie die Aussage "unsere Leute werden abgeschlachtet und ihr feiert" zugeordnet. Richei wurde auch als der Angreifer, der einer Person ein Schild entriss und sie danach schubste ausgemacht.

Im Rahmen der Zeug*innenvernehmungen unternahmen die Verteidiger*innen immer wieder Versuche, die Geschädigten als unglaubwürdig darzustellen oder ihnen nachzuweisen, dass sie ihre Aussagen untereinander abgesprochen hätten. Auch wurde ihr Status als Opfer am Tattag in Frage gestellt und ihnen unterstellt, dass sie die Angeklagten durch ihr Verhalten am Tattag gezielt zu dem dann erfolgten Angriff provoziert hätten.

Im Lauf des vierten Prozesstags erschienen auch erstmals zwei sich mit den Angeklagten solidarisierende Rechte als Besucher im Verfahren. Dabei handelte es sich um die sächsischen Neonazis Lucas S. und Tom R., die durch ihr Auftreten bei einschlägigen Veranstaltungen in Sachsen und im weiteren Bundesgebiet sowie ihre Social Media-Präsenz bekannt sind. Die beiden Besucher mussten den Verhandlungssaal jedoch kurz nach ihrem Eintreffen vorerst wieder verlassen, um ihre Jacken wieder anzuziehen und so auf ihren Shirts sichtbare neonazistische Symbolik zu verdecken. Später am Tag wurden sie diesbezüglich erneut durch die Vorsitzende ermahnt, da sie ihre Jacken wieder offen trugen. Nach dem Ende der Verhandlung waren die beiden außerhalb des Saals mit den Angeklagten Lasse Richei und Kevin J. im Gespräch zu sehen, mit denen sie scheinbar bereits außerhalb des Verfahrens bekannt waren.

Mit der letzten Zeugenvernehmung endete die Verhandlung am vierten Prozesstag um 13:30 Uhr. Die Hauptverhandlung wird am kommenden Dienstag den 27. Mai 2025 um 09:00 Uhr mit der Vernehmung von Zeug*innen zum Geschehen der beiden weiteren Tatorte am 1. September 2018 fortgesetzt.

Die kontinuierliche Begleitung und Aufarbeitung des Verfahrens wird durch eine Förderung von Polylux ermöglicht.

Alle Beiträge sehen