Opferberatungsprojekte fordern mehr Unterstützung
Opferberatungsprojekte fordern mehr Unterstützung und warnen vor der drohenden Abwicklung von Beratungsprojekten in Sachsen
Am 4. November jährt sich die Selbstenttarnung des NSU zum zweiten Mal. Täglich registrieren die Beratungsstellen mehr als zwei bis drei rechtsmotivierte Gewalttaten. Bei den Strafverfolgungsbehörden fehlt eine Zäsur in der Auseinandersetzung mit politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt immer noch.
Anlässlich des zweiten Jahrestages der Selbstenttarnung des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) kritisieren die Beratungsstellen für Betroffene politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt, dass eine Zäsur bei den Strafverfolgungsbehörden im Umgang mit einschlägigen Gewalttaten noch immer nicht stattgefunden habe. „Wir registrieren täglich zwei bis drei politisch rechts, rassistisch oder antisemitisch motivierte Gewalttaten,“ sagt Robert Kusche, ein Sprecher der Beratungsprojekte. So wurde beispielsweise am 21. September 2013 ein Imbissbetreiber türkischer Herkunft in Bernburg (Sachsen-Anhalt) von Neonazis an seiner Arbeitsstelle angegriffen und so schwer am Kopf verletzt, dass er zwei Wochen lang im Koma lag und vermutlich bleibende Schäden davon tragen wird. „Und noch immer sind viele Betroffene mit Polizeibeamten und Staatsanwaltschaften konfrontiert, die rassistische Motive ignorieren oder verharmlosen oder den Betroffenen eine Mitverantwortung für die Angriffe zuschreiben,“ so Robert Kusche weiter.
Als ersten dringenden Schritt fordern die Beratungsstellen die Umsetzung der Empfehlungen des Bundestagsuntersuchungsausschuss zum NSU im Bereich Polizei und Staatsanwaltschaften. Dies sei vor dem Hintergrund massiver rassistischer Mobilisierungen gegen Flüchtlingsheime an Standorten in Berlin, Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen zwingend notwendig, „denn schon im vergangenen Jahr haben wir einen Anstieg bei rassistisch motivierten Gewalttaten registriert,“ so Kusche. Da jedoch bislang auch nicht erkennbar sei, dass die Innenminister die von den Projekten und vom NSU-Untersuchungsausschuss geforderte Reform der Erfassung von einschlägigen Gewalttaten umsetzen, werde es weiterhin ein hohes Dunkelfeld nicht registrierter rassistischer Gewalt geben und Betroffene ohne Zugang zu Unterstützung bleiben. „Eine Zäsur bei den Strafverfolgungsbehörden in der Auseinandersetzung mit politisch rechts, rassistisch und antisemitisch motivierter Gewalt fehlt auch zwei Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU immer noch,“ so Kusche.
Die gemeinsame Empfehlung des Bundestagsuntersuchungsausschusses zum NSU, „ein deutlich höheres Fördervolumen“ für ein Bundesprogramm gegen Rechtsextremismus in den neuen Bundeshaushalt einzustellen, müsse bei den Koalitionsverhandlungen von CDU/CSU und SPD berücksichtigt und umgesetzt werden. Die Finanzierung der Beratungsarbeit müsse außerdem unabhängig von Förderprogrammen verstetigt und dafür gesetzlich abgesichert werden. Nur so könnten unabhängige Opferberatungsangebote in den alten Bundesländern flächendeckend und analog der Qualitätsstandards der Projekte im Osten und in Berlin auf- bzw. ausgebaut und die Qualität der Beratungsangebote im Osten erhalten werden. „Doch statt mehr Unterstützung für Opfer rechter Gewalt bereitzustellen, stehen derzeit in Sachsen die erfolgreichen Beratungsstrukturen der RAA und die Mobile Beratung des Kulturbüro Sachsen e.V. vor dem Aus, denn der Freistaat hat die notwendige Kofinanzierung zu den Bundesmitteln für 2014 bislang nicht im Haushalt eingeplant,“ warnt Kusche.
Wenige Wochen nach der Selbstenttarnung des NSU hatten die Opferberatungsprojekte in einem Appell „Was jetzt zu tun ist“ (http://www.taz.de/!82246/) mehr Unterstützung für Opfer rassistischer, rechter und antisemitisch motivierter Gewalt gefordert. „Doch weder ist das Versprechen von Angela Merkel nach schonungsloser Aufklärung des NSU-Komplexes bislang zufriedenstellend umgesetzt, noch sehen wir die Bereitschaft, Rassismus als gesellschaftliches Problem endlich beim Namen zu nennen und daraus die Konsequenzen zu ziehen.“
ezra - Mobile Beratung für Opfer rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen
LOBBI e.V. - Landesweite Opferberatung Beistand und Information für Betroffene rechter Gewalt in Mecklenburg-Vorpommern Mobile Beratung für Opfer rechter Gewalt (Sachsen-Anhalt)
ReachOut - Opferberatung und Bildung gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus - Berlin
Opferperspektive Brandenburg e.V.
Opferberatung für Betroffene rechter und rassistischer Gewalt des RAA Sachsen e.V.
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Zwei Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU fordern die Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt:
Die Anerkennung von institutionellem Rassismus als Ursache dafür, dass die Mordserie nicht frühzeitig gestoppt und Menschenleben gerettet werden konnten.
Die Verpflichtung der Ermittlungsbehörden, bei Gewalttaten gegen Angehörige der typischen Opfergruppen von Neonazis und rassistischen Gelegenheitstätern ein politisches Tatmotiv aktiv auszuschließen.
Ein Bleiberecht für alle Opfer rassistischer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Die Einrichtung einer dauerhaften Enquetekommission gegen Rassismus unter starker Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Akteur_innen und der Perspektive der Betroffenen, mit der Zielsetzung, umfangreiche Empfehlungen für die Ermittlungsbehörden zu erarbeiten, die einem institutionellen Rassismus entgegenwirken.
Die Anerkennung aller Todesopfer rechter Gewalt durch die Bundesregierung, wie sie in der Liste der „Zeit“ und des „Tagesspiegels“ regelmäßig dokumentiert werden.
Die Arbeit von Opferberatungen, Mobilen Beratungsteams und anderen Projekten, die sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus engagieren, muss anerkannt, ausgebaut und die Finanzierung langfristig gesetzlich abgesichert werden.
Das V-Mann-System des Verfassungsschutzes und die damit verbundene indirekte Förderung und Finanzierung von Neonazi-Strukturen darf auf keinen Fall weiter praktiziert werden.
Eine Auflösung der Verfassungsschutzbehörden ist überfällig. Die Geheimdienste haben nicht zur Aufklärung der rassistisch motivierten Mordserie des NSU und seiner Helfer_innen beigetragen. Auch zur Aufklärung aktueller rechter Gewalt leisten sie keinen Beitrag. Vielmehr haben sie jahrelang mit dafür gesorgt hat, dass Neonazistrukturen unterschätzt wurden.
Die sogenannte „Extremismus-Theorie“ hat dazu geführt, die ernsthafte Gefahr, die von rechten Straftaten ausgeht, zu relativieren. Hier müssen dringend neue fachliche Grundlagen für eine erfolgreiche Ermittlungsarbeit gelegt werden.
Als eine Konsequenz aus den Erkenntnissen des parlamentarischen Untersuchungsausschusses fordern wir die Einrichtung eines unabhängiges Gremiums zur Überwachung und Kontrolle der Arbeit der Ermittlungsbehörden. Dieses Kontrollgremium muss ausgestattet sein mit allen erforderlichen Befugnissen.
Um Fördermittel aus dem Bundesprogrammen „TOLERANZ FÖRDERN – KOMPETENZ STRÄRKEN“ für die Finanzierung ihrer Arbeit erhalten zu können, müssen die Opferberatungsstellen eine sogenannte „Demokratieerklärung“ unterschreiben. Mit der auch als „Extremismusklausel“ bekannten Erklärung versucht das Bundesfamilienministerium uns zur Bespitzelung von Projektpartnern und Projektpartnerinnen zu zwingen, indem wir verpflichtet werden, deren Verfassungstreue zu prüfen. So wird eine Kultur des Verdachts und Misstrauens etabliert, die für eine offene Gesellschaft fatal ist. Diese Praxis muss umgehend abgeschafft werden.