Chemnitz: Verfahren zu Neonazi-Angriffen von 2018 endet mit Freisprüchen und einer Einstellung
Chemnitz, 27. August 2025 – Nach 14 Verhandlungstagen am Landgericht Chemnitz steht fest: Im Zusammenhang mit den rechten Ausschreitungen im Sommer 2018 wird es im zweiten Verfahren vor dem Landgericht Chemnitz keine Verurteilung der Angeklagten geben. Drei der im Verfahren Angeklagten wurden freigesprochen. Das Verfahren gegen den bundesweit bekannten Braunschweiger Neonazi Lasse Richei wurde ohne Auflagen eingestellt.

Pressemitteilung des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.) und der Opferberatung SUPPORT für Betroffene rechter Gewalt des RAA Sachsen e.V.
Chemnitz: Verfahren zu Neonazi-Angriffen von 2018 endet mit Freisprüchen und einer Einstellung – Betroffene bleiben ohne Gerechtigkeit zurück
Sieben Jahre nach den Angriffen erleben Betroffene Straflosigkeit und hohe Kosten
"Dieses Verfahren ist ein Freifahrtschein für den randalierenden rechten Mob. Erst wird schlampig ermittelt, dann das Verfahren jahrelang durch die Justiz verschleppt und schlussendlich freigesprochen. Wer so gegen rechte Gewalt vorgeht, braucht sich nicht zu wundern, dass Chemnitz als Eldorado für die bundesweite Neonaziszene erscheint", so Rechtsanwältin Dr. Kati Lang, die einen Chemnitzer Nebenkläger vertritt.
Die Urteilsverkündung lässt die Betroffenen sprachlos, mit erheblichen Kosten und einem massiven Vertrauensverlust in den Rechtsstaat zurück. Denn trotz zahlreicher Belastungszeug*innen im Sinne der Anklage und Beweisen, dass die vier Angeklagten an den Angriffen beteiligt waren, bleibt nach sieben Jahren Kampf gegen die bisherige Straflosigkeit die bittere Feststellung: Es gibt keine Gerechtigkeit für Betroffene rechter Gewalt in Sachsen.
Zum Hintergrund des Verfahrens: Am 1. September 2018 griff in Chemnitz eine Gruppe bundesweit angereister Neonazis und Rechter gezielt Menschen an, die zuvor an der Gegendemonstration „Herz statt Hetze“ teilgenommen hatten. Dabei kam es unter anderem zu körperlichen Angriffen, massiven Bedrohungen, Beleidigungen und einer Hetzjagd. Unter den Angreifenden befanden sich bekannte und teils vorbestrafte Neonazis aus verschiedenen Bundesländern.
Im Rahmen des Prozesses wurden zahlreiche Zeug*innen gehört, darunter Betroffene, ehemalige Angeklagte und Polizist*innen. Video- und Bildmaterial wurde gesichtet, die Tatabläufe wurden detailliert rekonstruiert. Unstrittig war, dass die Angeklagten Teil einer Gruppe waren, die nach einer rechten Demonstration durch die Chemnitzer Innenstadt zog und Gegendemonstrant*innen angriff. Mehrere Zeug*innen erkannten einzelne Angeklagte, etwa den einschlägig bekannten Braunschweiger Neonazi Lasse Richei, als die Personen wieder, von denen sie beleidigt und bedroht wurden. Dies hielt auch die zuständige Kammer des Landgerichts Chemnitz für erwiesen.
Da die unbestrittenen Körperverletzungshandlungen allerdings keinem der vier Angeklagten eindeutig nachgewiesen werden konnten und das Gericht die für den Landfriedensbruch erforderliche Gruppengröße nicht als nachweisbar ansah, gab es für drei der vier Angeklagten Freisprüche. Als erwiesen sah das Gericht ebenfalls misogyne Beleidigungen von Lasse Richei gegenüber mehreren Betroffenen an. Diese konnten aber nicht verfolgt werden, da entsprechende Strafanträge der Betroffenen fehlten - und somit ein sogenanntes Verfahrenshindernis darstellten. Deshalb gab es für den Braunschweiger eine Einstellung des Verfahrens.
Mit diesem Urteil endet ein juristischer Prozess, der sich über sieben Jahre erstreckte. Für die Betroffenen bedeutete das Verfahren wiederholte Aussagen zu traumatischen Ereignissen in Anwesenheit der Angeklagten. Trotz zahlloser Beweise bleiben die Taten für die Angeklagten ohne strafrechtliche Folgen.
"Mit den jahrelang verschleppten Strafverfahren im Chemnitz2018-Komplex präsentiert sich die sächsische Justiz als Helfershelfer von militanten Neonazis. Das Signal an alle Betroffenen rechter Gewalt in Sachsen und bundesweit ist so fatal wie eindeutig", sagt Heike Kleffner vom VBRG e.V., dem Dachverband der fachspezifischen Opferberatungsstellen. "Umso wichtiger ist die gemeinsame Spendenaktion für die Angegriffenen, damit sie zumindest die materiellen Folgekosten nicht alleine tragen müssen."
„Für die Betroffenen ist die Straflosigkeit der Angeklagten ein schwerer Schlag. Sie haben jahrelang auf eine juristische Aufarbeitung gehofft und wurden immer wieder in belastende Situationen zurückgeworfen. Nun bleibt ihnen nicht einmal die Anerkennung ihres Erlebens vor Gericht. Auch, weil die Kammer in ihrer Urteilsbegründung keinerlei Worte des Bedauerns oder der Einordnung der rechten und menschenverachtenden Motivation der Täter fand. Es entsteht der Eindruck: Die sächsische Justiz hat keine juristische Antwort auf einen marodierenden rechten Mob, der vermeintlich politische Gegner*innen bedroht und verprügelt“ sagt Anna Schramm, Beraterin der Beratungsstelle SUPPORT, welche Betroffene begleitet hat.
„Wer sich rechter Gewalt entgegenstellt und unsere Demokratie verteidigt, darf vom Staat nicht allein gelassen werden. Es ist seine Verantwortung, diese Menschen zu schützen. Wenn Verfahren aber über Jahre hinweg verschleppt werden und dann mit Freisprüchen und Einstellungen enden, ist das ein fatales Zeichen für Betroffene von rechter Gewalt und alle, die sich für eine freie, offene und demokratische Gesellschaft einsetzen. Angesichts der gegenwärtigen politischen Lage sollte klar sein: Der Staat und seine Institutionen müssen handeln – konsequent, schnell und unmissverständlich gegen die extreme Rechte.“ sagt Regina Will von der Beratungsstelle response aus Hessen.
Für die Betroffenen ist das Urteil ein doppelter Schlag: Zum einen bleiben die erlebte Gewalt und die sieben Jahre andauernde Auseinandersetzung mit dem Verfahren ohne juristische Konsequenzen für die Tatbeteiligten. Zum anderen entstehen ihnen jetzt hohe Kosten, weil das Gericht die Übernahme der Kosten der Nebenklage verweigert hat.
Weil das Verfahren sich über viele Jahre zog, greifen keine früheren Unterstützungsansprüche mehr – etwa für Studierende. Die Kosten für die Anwält*innen, die durch die lange Dauer und Komplexität des Verfahrens mittlerweile in die Höhe geschossen sind, müssen sie nun selbst tragen. Die RAA Sachsen, die Beratungsstelle response in Hessen und der VBRG e.V. rufen daher zu Spenden auf, damit die Betroffenen die materiellen Folgen des Angriffs nicht alleine tragen müssen.
Hintergrund:
Die Angriffe ereigneten sich im Kontext der rassistischen Mobilisierungen in Chemnitz Ende August und Anfang September 2018. Innerhalb einer Woche dokumentierte die Opferberatung SUPPORT der RAA Sachsen e.V. allein in Chemnitz 48 rassistisch, antisemitisch und rechts motivierte Angriffe. Am 1. September 2018 marschierten tausende Rechte, Rassist*innen und Neonazis auf Einladung von AfD, Pegida und Pro Chemnitz durch die Stadt. Die Gegendemonstration „Herz statt Hetze“ brachte tausende Menschen auf die Straße, um ein Zeichen für Solidarität und gegen rechte Gewalt zu setzen.
Unmittelbar nach dieser Demonstration kam es zu mehreren koordinierten Angriffen auf Teilnehmende der Gegendemonstration. Eine Gruppe, die ein Schild mit der Aufschrift „Chemnitz ist weder grau noch braun“ bei sich trug, wurde beleidigt, geschlagen, getreten und ihres Schildes beraubt. Eine andere Gruppe aus Hessen wurde auf dem Heimweg von bewaffneten Neonazis angegriffen. Auch hier wurden Fahnen z.B. der SPD geraubt oder zerstört.
Obwohl die Betroffenen die Angriffe meldeten, eine mutmaßliche Tätergruppe wenige Minuten danach von der Polizei aufgegriffen wurde und Beweise vorlagen, verzögerte sich das Verfahren über Jahre. Erst vier Jahre nach der Tat erhob die Staatsanwaltschaft Anklage gegen 19 Rechte wegen gefährlicher Körperverletzung und schweren Landfriedensbruchs. In einem ersten Verfahren am Landgericht Chemnitz Ende 2023 wurde das Gerichtsverfahren gegen alle Angeklagten eingestellt. Mindestens ein weiteres Verfahren zum hier benannten Vorfall startet schon am 8. September 2025 am Landgericht Chemnitz.
Eine ausführliche Prozessdokumentation findet sich unter: https://www.raa-sachsen.de/support/prozessdokus
Die Spendenkampagne findet sich unter: https://www.betterplace.org/de/projects/110735-solidaritaet-zeigen-fuer-gerechtigkeit-streiten