Meldung 23. September 2021

30 Jahre Herbst 1991 - Bericht zum Critical Walk in Hoyerswerda

Am 18. September 2021 haben wir anlässlich des 30ten Jahrestages der rassistischen Ausschreitungen gegen ehemalige Vertragsarbeiter und Asylsuchende im Herbst 1991 einen Critical Walk in Hoyerswerda veranstaltet. Etwa 140 Personen, darunter auch Betroffene der Angriffe, beteiligten sich an dem Stadtrundgang, um an die damaligen Geschehnisse zu erinnern.

cw hoy final.jpg

Den Startpunkt des Aufzugs bildete eine Auftaktkundgebung am Bahnhof in der Hoyerswerdaer Altstadt. In einem Redebeitrag wurden der zeitliche Ablauf der damaligen Angriffe sowie die Folgen des Pogroms im bundesdeutschen Kontext thematisiert.

Von dort aus zog der Mahngang zum Polizeirevier in der Salomon-Gottlob-Frentzel-Straße, an dem das Agieren der Polizei während der Angriffe kritisiert wurde. Die nachfolgende Zwischenkundgebung fand am ehemaligen Wohnheim für Vertragsarbeiter*innen in der Albert-Schweitzer-Straße statt, wo die Angriffe am 17. September 1991 begannen. In einer bewegenden Rede berichtete Luis Mazuze vom Afropa e.V. aus Dresden von seinen persönlichen Erfahrungen als Vertragsarbeiter in der DDR und dem Rassismus in der Wendezeit.

Eine weitere Kundgebung wurde am städtischen Denkmal in Erinnerung an den Herbst 1991 am Wilhelm-Külz-Ring abgehalten. Dort erinnerte die Initiative Pogrom 91 in ihrem Redebeitrag an die jahrelange Auseinandersetzung um eine kritische Aufarbeitung der Angriffe in der Stadt, die schließlich im Jahr 2014 zur Schaffung des Erinnerungsortes führte.

Seinen Abschluss fand der Critical Walk am Lausitzer Platz. In einem Redebeitrag des Dokumentationszentrums „Lichtenhagen im Gedächtnis“ wurden die Parallelen der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen und das sich fortsetzende Versagen von Politik und Sicherheitsbehörden herausgestellt. Zudem erinnerte die Gruppe Antifa Saar/Projekt AK in einem Grußwort an Samuel Kofi Yeboah, der am 19. September 1991 bei einem Brandanschlag von Neonazis in Saarlouis getötet wurde. Die Initiative Jugendkultur Hoywoj unterstrich in ihrem Redebeitrag, dass das Wachhalten der Erinnerung an die damaligen Geschehnisse auch für die nachfolgenden Generationen von großer Bedeutung ist.

Die Veranstaltung fand im Rahmen des Gedenkwochenendes „Hoyerswerda 1991 – Erinnerungen – Einsichten – Perspektiven“ statt, das u.a. von der Initiative Zivilcourage Hoyerswerda in Kooperation mit der Stadt initiiert wurde.

Redebeitrag von Support Dresden zur Eröffnungskundgebung

Am 17. September 1991 wurden auf dem Wochenmarkt am Lausitzer Platz in Hoyerswerda vietnamesische Händler von einer Gruppe junger Neonazis angegriffen. Die Betroffenen flüchteten in das nahegelegene Wohnheim für ausländische Vertragsarbeiter in der Albert-Schweitzer-Straße. Zum damaligen Zeitpunkt wohnten noch etwa 130 Vertragsarbeitende in dem Wohnblock, die meisten von ihnen kamen aus Mosambik und Vietnam.

Die Angreifer begaben sich ebenfalls vor das Gebäude und begannen das Haus anzugreifen. Dies war der Auftakt zu einer beinahe eine Woche andauernden rassistischen Gewaltorgie, die sich zuerst gegen die Vertragsarbeiter in der Albert-Schweitzer-Straße und im weiteren Verlauf auch gegen etwa 240 Geflüchtete richtete, die seit dem Frühjahr 1991 in einem Wohnheim auf der Thomas-Müntzer-Str. untergebracht waren.

Nachdem sich am bereits zu Beginn der Ausschreitungen am 17. September zahlreiche Nachbarn und weitere Schaulustige vor dem Vertragsarbeiterwohnheim versammelten und den Angreifern applaudierten, spitzte sich die Lage an den folgenden Tagen immer weiter zu.

Vom 18. bis zum 20.September wuchs die Menschenmenge, die täglich vor der Unterkunft randalierte, auf mehrere hundert Menschen an - neben Steinen flogen nun auch Molotov-Cocktails gegen das Gebäude. Die Polizeikräfte waren überfordert. Die Angreifer konnten größtenteils unbehelligt agieren und fühlten sich durch die Zustimmung der Menge in ihrem Tun bestärkt. Die Bewohner der Unterkunft, die anfangs versucht hatten, sich gegen die Angriffe zu verteidigen, konnten das Gebäude zu diesem Zeitpunkt nur noch unter Polizeischutz verlassen.

Am 20. September, dem 4ten Tag der Angriffe, wurde beschlossen, mit der geplante Rückführung der Vertragsarbeiter aus der Albert-Schweitzer-Str. bereits am Folgetag zu beginnen, um auf diesem Weg die angespannte Situation wieder in den Griff zu bekommen. Am 21. September verließen daher etwa 70 Vertragsarbeiter unter Polizeischutz die Unterkunft. Sie wurden in Bussen aus der Stadt gebracht, viele von ihnen direkt in ihre Herkunftsländer zurückgeflogen.

Diese Entscheidung wurde von den Angreifern und vielen Bürger*innen in Hoyerswerda als Erfolg wahrgenommen und weitere Handlungsaufforderung gewertet. Ermutigt durch den Abtransport der Vertragsarbeiter aus Hoyerswerda, richteten sich ihre Attacken ab dem 20. September 1991 auch gegen das Wohnheim für Asylsuchende in der Thomas-Münzer-Straße.

Auch hier versammelten sich in kürzester Zeit bis zu 500 Menschen vor der Unterkunft. Die inzwischen um mehrere Hundertschaften verstärkte Polizei war wiederum kaum in der Lage, das Gebäude abzuschirmen und die Bewohner*innen zu schützen. Schließlich wurden am 23. September alle Asylsuchenden aus der Thomas-Müntzer-Str. unter dem Beifall von 1000 Schaulustigen mit Bussen aus Hoyerswerda evakuiert und auf andere Unterkünfte im Umland verteilt.  

Einige der betroffenen Asylsuchenden weigerten sich aus Angst vor weiteren Angriffen die Busse an den Zielorten zu verlassen. Einer von ihnen sagte später, der Fahrer ihres Busses hätte diesen daraufhin in der Nähe von Meißen einfach im Wald stehen lassen und sei nicht zurückgekommen. Sie seien dann selbstständig von dort zum Bahnhof gegangen, um mit dem Zug nach Berlin weiterzufahren. Viele weitere Asylsuchende aus Hoyerswerda versuchten anschließend ebenfalls in Gruppen oder individuell nach Berlin und Westdeutschland zu gelangen.

Nach den Angriffen galt Hoyerswerda als „ausländerfreie Zone“ und rechte Hochburg. Das Pogrom bildete den Auftakt einer deutschlandweiten Gewaltwelle gegen Migrant*innen. Noch während die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda andauerten, verbrannte der 27jährige ghanaische Flüchtling Samuel Kofi Yeboah bei einem Brandanschlag in Saarlouis. Im sächsischen Thiendorf griffen indes Jugendliche ein Flüchtlingsheim an und verletzten acht Menschen. In Freital bei Dresden und in Bredenbeck bei Hannover schleuderten Neonazis Molotow-Cocktails auf Flüchtlingsheime. Weitere Brandanschläge z.B. in Münster, in March und Tambach-Dietharz folgten.

1.483 extrem rechte Gewalttaten registrierte das Bundeskriminalamt am Ende des Jahres 1991. Im Jahr 1992 stieg die Zahl um mehr als das Doppelte. Angesichts der massiven Dunkelfelder bei rechten Gewalttaten in den frühen 1990er Jahren muss davon ausgegangen werden, dass diese Zahlen nur einen winzigen Ausschnitt der damaligen Realität widerspiegeln.

Allein im Umkreis von Hoyerswerda wurden in den nachfolgenden Jahren drei Menschen von Neonazis ermordet. Am 12. Dezember 1991 erschossen Mitglieder der Neonazi-Wehrsportgruppe „I. Werwolf Jagdeinheit Senftenberg“ in Meuro den 27-jährigen Timo Kählke. In der Nacht zum 11.Oktober 1992 wurde die Kellnerin Waltraud Scheffler in Geierswalde von einem 17-jährigen Neonazi mit einer Holzlatte ins Koma geprügelt. Sie starb wenige Tage später an ihren schweren Verletzungen. In der Nacht zum 20. Februar 1993 griffen Neonazis den damaligen Jugendclub „Nachtasyl“ in Hoyerswerda an und töteten den 22-jährigen Mike Zerna, indem sie einen Kleintransporter auf ihn kippten. Einer der Täter war bereits wegen seiner Beteiligung an den Ausschreitungen vom September 1991 verurteilt worden.

Dass die rechte und rassistische Gewalt in diesem Ausmaß eskalieren konnte, lag maßgeblich an der Ignoranz und dem Versagen von Politik und Sicherheitsbehörden. Schon im Nachgang der rassistischen Krawalle in Hoyerswerda erklärte der damalige sächsische Ministerpräsident Kurt Biedenkopf, dass Sachsen künftig eben weniger Asylbewerber aus dem Westen zugewiesen werden sollten, denn das eigentliche Problem sei nicht die rechte Gewalt und der Hass auf Migrant*innen, sondern „die Einwanderung.“ In einer ebenfalls 1991 im Spiegel veröffentlichten Umfrage des Emdid-Instituts bekundeten 21 Prozent der ostdeutschen und 38 Prozent der westdeutschen Befragten „Verständnis“ für die „rechtsradikalen Tendenzen“, die, Zitat, „das Ausländerproblem allerorten hat aufkommen lassen“.

Um sich die Stimmung gegenüber Geflüchteten im wiedervereinigten Deutschland ins Gedächtnis zu rufen, lohnt ein Blick in die damalige Presse. Der Spiegel titelte im September 1991 unter einem Bild eines schwarz-rot-goldenen Kahns voller Menschen: „Flüchtlinge, Aussiedler, Asylanten - Ansturm der Armen.“ Die Bildzeitung titelte im Januar 1993: „Fast jede Minute ein neuer Asylant. Die Flut steigt – wann sinkt das Boot?“

In der Folge der andauernden Welle rassistischer und rechter Gewalttaten wurde 1993 schließlich die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl mit einer 2/3 Mehrheit vom Deutschen Bundestag beschlossen. Für Geflüchtete war es danach sehr viel schwieriger Asyl in Deutschland zu erhalten. »Wenn das Volk uns die Legitimation entzieht, müssen wir unsere Politik ändern«, kommentierte der damalige SPD-Vorsitzende Björn Engholm diese Entscheidung.

In vielen Orten, in denen sich damals rassistische Krawalle, Anschläge und Morde ereigneten, war eine Aufarbeitung dieser Taten lange Zeit kaum möglich. Die Sorge um das eigene Image lag oft näher, als eine Auseinandersetzung mit dem Schicksal der Betroffenen und der Frage nach der eigenen Verantwortung.

Uns interessieren im Beispiel der Angriffe von Hoyerswerda jedoch andere Fragen, als etwa solche, wie viele der damaligen Angreifer denn nun tatsächlich aus Hoyerswerda gekommen sind.

Wir möchten danach fragen, was jemand denkt, der jahrelang für Deutschland gearbeitet hat und dann vom einen zum anderen Moment angegriffen und in Folge dessen sogar abgeschoben wurde, weil die deutschen Behörden seinen Schutz nicht garantieren konnten.

Wie geht es jemandem, vor dessen Haus Molotow-Cocktails explodierten und der in einer solchen Situation keine Hilfe und Solidarität erfährt, sondern in hasserfüllte und jubelnde Gesichtern blickt und in der randalierenden Menge seine Arbeitskollegen und Nachbarn entdeckt?

Wie müssen sich Menschen fühlen, wenn in Folge der Angriffe auf sie ihre Rechte nicht gestärkt, sondern geschwächt werden? Wenn die Politik und die Behörden die Wut der Angreifer sogar für gerechtfertigt erklären?

Sehen wir diese Menschen wirklich als gleichberechtigt, als gleichwertig vor dem Gesetz? Hätten wir eine solche Behandlung geduldet, wenn so etwas jemandem aus unserer Familie wiederfahren wäre?

Und was muss passieren, um einen solchen Akt von Gewalt, von Hass, von Ausgrenzung, zu sühnen?

Nach 30 Jahren haben wir noch immer kaum Antworten auf diese Fragen, denn Erfahrungsberichte von Zeug*innen gibt es nur wenige.

Wenn wir uns die Medienberichte von damals anschauen, lesen sie sich auch heute wieder sehr aktuell. Das Wiedererstarken der rechten und rassistischen Angriffe in den Jahren 2014/15 und die Reaktionen der Politik heute, die vor allem an neuen Grenzzäunen und der Verschärfung des Asylrechts interessiert ist, hinterlassen ein schales Gefühl. Wenn wir uns wünschen, dass sich die Dinge verändern, ist es an der Zeit, nicht immer wieder mit den gleichen Methoden an dieselben ungelösten Probleme heranzutreten. Die Methode, das gesamtgesellschaftliche Problem von Rassismus und rechtem Gedankengut immer wieder reflexhaft als Einzelfälle zu deklarieren und an Einzeltäter*innen festzumachen, hat ausgedient.

Wenn wir reaktionäre Angriffe verhindern wollen, müssen wir auf vielen Ebenen darauf antworten. Wir müssen uns erinnern an das, was war, um Wiederholungen aktiv zu verhindern. Wir müssen den Betroffenen zuhören und sie ermutigen, über ihre Erlebnisse zu sprechen und ihrem Wunsch nach Gerechtigkeit nachkommen.

Und wir müssen uns rechtem und reaktionären Gedankengut aktiv entgegenstellen. Denn, wie 2016, 25 Jahre später, nochmals der Spiegel einen Hoyerswerdaer Bürger zitierte: "Was die Neonazis anstellten, war das eine. Dass Hunderte gebrüllt und geklatscht haben, darin liegt die große Schande."

Hintergrundinformationen über die rassistischen Angriffe vom September 1991 in Hoyerswerda unter: https://www.hoyerswerda-1991.de

Alle Beiträge sehen