Meldung 23. Februar 2021

Leipziger Zustände 2021 erschienen

Die neue Ausgabe der Broschüre „Leipziger Zustände“ des Projekts chronic.LE ist erschienen. U.a. mit einem Artikel unserer Kollegin aus Leipzig zum Thema Rassismus bei der sächsischen Polizei und deren Folgen für Betroffene.

Cover Leipziger Zustände 2021

Die regelmäßig erscheinende Broschüre bietet in ihrer siebten Ausgabe einen Überblick zu Diskriminierung und rechten Strukturen in der Region Leipzig. Die gesamte Broschüre kann hier geladen werden. Im Anhang dokumentieren wir den Artikel "Pauschalurteil? Rassismus in der sächsischen Polizei".

PAUSCHALURTEIL?

RASSISMUS IN DER SÄCHSISCHEN POLIZEI

von Lena Nowak Opferberatung Support RAA Sachsen e.V.

Vor einiger Zeit führten wir als Beratungsstelle für Betroffene rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt eine Veranstaltung in einem Leipziger Erwachsenenkurs für Deutsch als Zweitsprache durch. Wir stellten unsere Unterstützungsangebote vor und sprachen über die eigenen Rechte und Handlungsmöglichkeiten nach dem Erleben von rassistischer Gewalt. Von den Teilnehmenden wurde eingebracht, dass sie ungern die Polizei in einer Notsituation rufen würden, da sie keine zuverlässige Hilfe erwarten.

Von einigen Sprachschüler*innen wurde die Sorge geäußert, selbst beschuldigt zu werden und eher Probleme als Unterstützung zu bekommen. Wir sahen uns damit konfrontiert, dass eine Bevölkerungsgruppe, die durch rassistische Gewalt gefährdet ist, davon ausgeht, von der Polizei keine Hilfe zu bekommen und sie mitunter als Bedrohung und Gefahr für die eigene Sicherheit wahrnimmt. Die Ursachen dafür sind oft eigene negative Erfahrungen von People of Color im Kontakt mit Polizist*innen – etwa jene Erfahrungen, dass Beweise nicht gesichert und Strafanzeigen nicht aufgenommen werden. Verletzte und verfolgte Menschen erleben, dass ihnen kein Glauben geschenkt wird und sie wie Täter*innen behandelt werden.

Von hellen und dunklen Feldern

Mit der Black Lives Matter-Bewegung und vor allem durch die Tötung von George Floyd im Mai 2020 in Minneapolis durch einen Polizisten wird wieder und vehementer über Polizeigewalt gesprochen. Dabei geht es in Deutschland vor allem um Einzelfälle von Körperverletzung, Folter und unterlassener Hilfeleistung mit Todesfolge durch Polizist*innen an People of Color. Aus der langjährigen Erfahrung der Beratungsstellen für Betroffene rechtsmotivierter und rassistischer Gewalt sind uns solche Berichte bekannt; ebenso wie die massiven Schäden, die diese Erfahrungen bei Betroffenen zur Folge haben. Allein in Sachsen haben wir in den letzten fünf Jahren in 26 Fällen explizit rassistisch motivierter Polizeigewalt beraten – ein Schlaglicht auf eine kaum abzuschätzende Dunkelziffer. Auslöser sind häufig sogenannte verdachtsunabhängige Kontrollen. Solche Situationen können dann der Anlass für physische Gewaltanwendung sein – etwa, wenn sich Betroffene beschweren, auf Beleidigungen reagieren oder sich weigern, sich schon wieder auszuweisen. Es sind aber auch Fälle überzogener Gewaltanwendung bei Festnahmen und unnötige Fixierung. Und es gibt Fälle, in denen nicht von überzogener, sondern explizit von ungerechtfertigter Gewaltanwendung gesprochen werden muss. Neben Kontrollsituationen sind es vor allem Einsätze im Wohnumfeld, bei denen es zu ungerechtfertigter und offenbar rassistisch motivierter Polizeigewalt kam – bis hin zu schweren Misshandlungen von wehrlosen Personen. Diese Vorfälle führen zu starker Belastung der Betroffenen und großer Frustration unter uns Fachkräften: Frustration, da rechtliche Mittel kaum Erfolg und nicht selten strafrechtliche Konsequenzen für die Geschädigten haben. So werden Strafanzeigen und Dienstaufsichtsbeschwerden gegen gewalttätige Polizist*innen nicht selten mit Gegenanzeigen und weiteren Repressionen beantwortet. Das Interventionsrepertoire der Berater*innen ist angesichts des Unrechts und zugefügten Leids sehr begrenzt und beschränkt sich dann oft auf inoffizielle Beschwerden und psychosoziale Unterstützung. Die Ohnmacht ist demzufolge allseits groß. Was aber ändert diesen unzumutbaren Zustand? Öffentliche Skandalisierungen scheinen zumindest in der sächsischen Polizei kaum für Veränderungswillen zu sorgen.

Institutioneller Rassismus... und seine Verleugnung

Die Polizei hat ein strukturelles Problem mit Gewalt und Rassismus. Was bedeutet das genau? Struktureller Rassismus ist die in der Institution angelegte Benachteiligung aufgrund rassistisch gelesener Merkmale, also aufgrund der Sprache oder des Aussehens oder auch, weil jemand keinen deutschen Pass besitzt. Diese Benachteiligung oder Diskriminierung führt dazu, dass die Strafverfolgungsbehörden nicht in gleicher Art und Weise ihren Dienstauftrag erfüllen, nämlich den der Strafverfolgung. Auf der anderen Seite können Täter*innen, Opfer und Zeug*innen ihre Rechte nicht in gleichem Maße wahrnehmen – und zwar aufgrund jener rassistischen Einstellungen der Beamt*innen. Rassistisch motivierte Gewalt ist ebenso ein Effekt dieses Systems wie es auch ein*e Vernehmungsbeamt*in, die*der sich weigert, für eine*n Verletzte*n eine*n Dolmetscher*in zu bestellen. Das ist so wahr, wie es bagatellisierend wirkt. Und es ist deswegen strukturell, weil es sich nicht um Einzelfälle handelt, sondern vielfach erfahren und häufig berichtet wird und Auswirkungen auf den Polizeidienst wie die Ermittlungsarbeit im Ganzen hat. Die Ermittlungskatastrophen, die sich vor der Selbstenttarnung des NSU ereigneten, sind infolgedessen keine zufälligen „Pannen“ und auch nicht „besonders drastisch“, sondern entsprechen rassistisch geprägter Ermittlungstätigkeit bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz. Und daran hat sich bis heute kaum etwas verändert.

Beispiel Polizeireform Großbritannien

Mitte der Neunziger Jahre wurde der Jugendliche Stephen Lawrence in London erstochen. Der rassistische Hintergrund der Tötung wurde mehr als zehn Jahre nicht als solcher durch die Behörden aufgeklärt, da sie sich darauf konzentrierten, im angeblich kriminellen Milieu des Verstorbenen zu ermitteln. Dieses Versagen war Ende der Neunziger Jahre der Anlass für eine umfangreiche Untersuchung der beteiligten Behörden und ihrer Verfahrensweisen. Zwei Jahre später stellte eine Kommission fest, dass in der Londoner Polizei und weiteren britischen Direktionen institutionell ein Problem mit rassistischen Einstellungen und Dienstpraxen existierte.[1] Die Folge waren umfassende Reformen, die eine angemessene Prüfung rechter Tatbestände beinhaltete, Aufsichts- und Beschwerdeinstanzen einsetzte, regelhafte Sensibilisierungen der Polizeibeamt*innen durchführte und Maßnahmen ergriff, das Ermittlungspersonal diverser aufzustellen. Der große Fortschritt lag aber darin, dass das Thema „Rassismus in der Polizei“ ernstgenommen und genau als das bezeichnet und nicht wie landläufig als Einzelfall abgetan oder als Angriff auf die Polizei regelrecht verurteilt wird. Dass Betroffenen nicht geglaubt, dass ihre Erfahrungen bagatellisiert werden, ist umso folgenschwerer, denn die sozialen Reaktionen auf ein Gewalterlebnis haben unmittelbaren Einfluss auf die Bewältigung der Tatfolgen der verletzten Menschen. Deswegen muss eine wirksame Intervention gegen Rassismus in der Polizei in Deutschland deren Kultur und Strukturen in den Blick nehmen und die Situation und Perspektive der Betroffenen stärken.

[1] Sir William Macpherson (1999): The Stephen Lawrence Inquiry, online verfügbar unter https://www.gov.uk/ government/publications/the- stephen-lawrence-inquiry.

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