Neuigkeit 22. Mai 2023

Auswertung: Antisemitische Straftaten in (Ost-) Sachsen 2022 – Stagnation auf hohem Niveau

Im Jahr 2022 wurden in Sachsen 174 antisemitische Delikte von der Polizei aufgenommen. Überdies finden sich 29 Vorfälle mit antisemitischen Hintergrund in der Chronik der Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt „Support“, die nicht polizeilich registriert wurden. Es ereignet sich statistisch gesehen also fast jeden zweiten Tag eine antisemitische Straftat in sächsischen Orten. ...

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... Bei der überwiegenden Zahl der Fälle handelt es sich um sogenannte Propagandadelikte, die klar dem rechten politischen Spektrum zuzuordnen sind. Ernüchternd ist die juristische Aufarbeitung: Nur 16 Verurteilungen fanden 2022 statt.

Auf die Region Ostsachsen (Landkreise Görlitz, Bautzen, Sächsische Schweiz-Osterzgebirge und Meißen sowie die Stadt Dresden) entfallen 76 Delikte, das entspricht 44 Prozent der sachsenweit durch die Polizei registrierten Fälle. Die Großstadtregion Dresden bleibt ein Schwerpunkt im regionalen Vergleich.

Dass überhaupt ein genaueres Bild über das Ausmaß des strafrechtlich relevanten Antisemitismus in (Ost-) Sachsen besteht, ist den regelmäßigen Kleinen Anfragen der Landtagsabgeordneten Kerstin Köditz (Die Linke) zu verdanken. Bereits seit 2004 macht sie die im Rahmen des kriminalpolizeilichen Meldedienstes dem Landeskriminalamt Sachsen übermittelten antisemitischen Straftaten durch ihre Kleine Anfrage „Antisemitische Überfälle, Sachbeschädigungen, Leugnung der Shoa und andere antisemitische Straftaten in Sachsen“[1] der Öffentlichkeit zugängig. Ergänzend dazu haben wir die Chronik der Opferberatungsstelle „Support“ vom RAA Sachsen e.V. auf antisemitische Vorfälle[2] überprüft.

In der Aufarbeitung der Daten für das Jahr 2022 richten wir den Blick unserem regionalen Fokus entsprechend auch gesondert auf die Landkreise Sächsische Schweiz, Meißen, Görlitz und Bautzen sowie die Landeshauptstadt Dresden.

Grafik 1: Delikte nach Landkreisen, 2022
Grafik 2: Delikte in ostsächsischen Landkreisen, 2022 und 2021

Leipzig mit 38 und Dresden mit 27 antisemitischen Straftaten stechen deutlich hervor. Danach folgen Meißen mit 19, Bautzen und Chemnitz mit je 14, Nordsachsen mit zwölf. In den restlichen Landkreisen liegen die Zahlen im einstelligen Bereich, der Vogtlandkreis weist mit 6 Straftaten die wenigsten angezeigten antisemitischen Straftaten auf.

Betrachten wir die ostsächsischen Landkreise im Vergleich mit den Vorjahreszahlen, fällt der Zuwachs an Delikten im Kreis Meißen ins Auge. Auch in Hinblick auf die Einwohner:innendichte des Landkreises ist diese Entwicklung eklatant – acht Straftaten kommen auf 100.000 Einwohner:innen in Meißen, so viele wie an keinem anderen Ort in Sachsen.  

Die besonders hohen Anzahlen an Straftaten in Leipzig und Dresden können auf verschiedene Faktoren zurückgeführt werden. Neben der erhöhten Sichtbarkeit jüdischen Lebens durch die öffentliche Präsenz der sachsenweit größten (Leipzig) und zweitgrößten (Dresden) jüdischen Gemeinden, kann zur Erklärung ebenso die höhere Bevölkerungsdichte der Großstädte herangezogen werden. Nicht zu vernachlässigen ist aber auch das in Dresden allgemein erhöhte rechte Protestgeschehen. All diese Faktoren schaffen den Raum für Antisemitismus in Wort und Tat.

Grafik 3: Analoge und digitale Delikte, links: 2022 in Sachsen, rechts: 2022 und 2021 in Ostsachsen

Der überwiegende Teil der in ganz Sachsen aufgenommenen Straftaten fand 2022 nicht mehr im Internet statt. An den Vergleichszahlen für Ostsachsen aus dem Jahr 2021 spiegeln sich noch deutlich die Ausgangsbeschränkungen der Pandemie wider – mehr als die Hälfte der Delikte wurden im digitalen Raum verübt. Die antisemitischen Vorfälle, die nur die Opferberatungsstelle Support erfasst hat, sind ausschließlich nicht-virtuell. Diese sind in der oberen Grafik nicht erfasst.

Grafik 4: Delikte nach Strafgesetzbuch

Die meisten Vergehen aus der polizeilichen Statistik bleiben auch im Jahr 2022 in Sachsen Propagandadelikte: Auf 113 Fälle von Volksverhetzung (§ 130 StGB) folgt die Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen mit 31 Delikten (§ 86a StGB). Daneben verzeichnet die Statistik 13 Fälle von Sachbeschädigung (§ 303/304 StGB), darunter die Beschädigung eines Gegenstands in der Chemnitzer Synagoge im Mai.

Zu neun Fällen von Beleidigung (§ 185 StGB) kommt der 2022 neu eingeführte Straftatbestand der verhetzenden Beleidigung (§ 192a StGB), der einmal aufgenommen wurde. In der polizeilichen Statistik tauchen im Jahr 2022 weitere Straftatbestände mit jeweils einer Tat auf, die in Grafik 4 nicht enthalten sind: Diebstahl (§ 242 StGB), besonders schwerer Fall des Diebstahls (§ 243 StGB), Raub (§ 249 StGB) sowie Belohnung und Billigung von Straftaten (§140 StGB). Im Jahr 2022 gab es laut Kriminalstatistik keinen Fall von Gefährlicher Körperverletzung (§ 224 StGB). Dennoch blieb 2022 körperliche Gewalt nicht aus: In der Chronik der Beratungsstelle Support wird von einem Fall berichtet, in der Journalist:innen im Zuge einer Demonstration gegen die Coronaschutzmaßnahmen in Freiberg erst antisemitisch beleidigt und in der Folge ihr Begleitschutz angegriffen wurde.[3] In einem anderen Fall in Oelsnitz (Erzgebirge) kam es erst zu antisemitischen Parolen, darauf von einem Passanten angesprochen wurde der Täter handgreiflich und schlug mit einem Gegenstand zu.[4]

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Mit 80 Prozent werden antisemitische Straftaten in Sachsen nach wie vor besonders häufig dem rechten Spektrum zugeordnet. In Ostsachsen hat sich der Anteil rechter Straftaten im Vergleich zum Vorjahr leicht erhöht. Weiterhin hoch, wenn auch in Ostsachsen im Vergleich zum Jahr 2021 leicht gesunken, bleibt der Anteil an Fällen, die laut Polizei nicht zuordenbar seien, mit 14 Prozent in Sachsen bzw. 16 Prozent in Ostsachsen. Damit scheint sich mit Blick auf den Antisemitismus in Sachsen zu bestätigen, was vom Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. für den Bereich rechter Gewalttaten schon 2021 konstatiert wurde: „Wir sehen mit Besorgnis, dass die Untererfassung rechter Gewalt zunimmt. Dies zeigt sich insbesondere auch bei der Verortung von Gewalttaten durch Anhänger*innen von Verschwörungsideologien und der Coronaleugner-Bewegung in der polizeilichen Kategorie ‚PMK nicht zuzuordnen/verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates’“.[5]

Dem linken politischen Spektrum ordnete die Polizei 2022 keine antisemitische Straftat zu.

Mit jeweils 3 Prozent sind sachsenweit die Bereiche „Religiöse Ideologie“ und „Ausländische Ideologie“ erfasst wurden. Unter „Ausländische Ideologie“ werden Straftaten eingeordnet, wenn im Ausland begründete nichtreligiöse Ideologien als Hintergrund für die Taten angenommen werden. In einem der so zugeordneten Fälle wurde eine Fahne gestohlen, in einem anderen Fall leugnete eine Person den Holocaust. Im Jahr 2021 wurde in diesem Bereich keine Straftat verortet.

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Im Monatsvergleich zeigen sich für ganz Sachsen Spitzen an antisemitischen Vorfällen im Februar mit 26 und Januar mit 24 Fällen. Diese Daten deuten auf einen zeitlichen Zusammenhang mit der Debatte um eine Impfpflicht gegen das Coronavirus und die Zugangsbeschräkungen in öffentlichen Einrichtungen für ungeimpfte Personen hin, die das Protestgeschehen in Sachsen wieder befeuerten. Beispielhaft sei hier der Fall eines Protestteilnehmers genannt, der ein Schild mit der Aufschrift „Inzidenz 1933“ offen an der Dresdner Synagoge vorbei trug.[6]

Der recht rapide Rückgang der Fallzahlen im März kann mit der statistischen Untererfassung erklärt werden. Auffälliger Weise wurden in den im März veröffentlichten Daten keine genauen Themenfelder der Hasskriminalität angegeben. Dabei ist gerade ab Ende Februar mit einem Anstieg im Bereich Antisemitismus zu rechnen: Ende Februar begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. In der Folge kam es wieder verstärkt zu Demonstrationen, auch von Seiten des Verschwörungsmilieus.

Im Mai erreichen die antisemitischen Fallzahlen einen weiteren Höchststand mit 21 aufgenommenen Straftaten. In Leipzig wurde anlässlich des sogenannten Nakba-Tags, einem palästinensischen Gedenktag Mitte Mai, eine pro-palästinensische Parole gerufen und eine Israelfahne verbrannt. Schon im März 2022 kam es zu Terroranschlägen in Israel, die von einigen Seiten Solidaritätsbekundungen mit den Attentätern nach sich zogen. Antiisraelische Bewegungen zeigten im Frühjahr durch Proteste mehr Präsenz und normalisieren Antisemitismus im Öffentlichen Raum[7] – als „Israelkritik“ wie im Beispiel oben oder ganz offen, durch Beschmieren der Gedenktafel in Erinnerung an das „Judenlager Hellerberg“ in Dresden mit dem Schriftzug „Wiedereröffnung“.

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Die juristische Aufarbeitung antisemitischer Straftaten hängt dem Aufkommen weiter deutlich hinterher: Im Vergleich zu 174 antisemitischen Delikten, die 2022 in Sachsen registriert wurden, kam es im selben Zeitraum nur zu 16 Verurteilungen. Jeweils fünf Verurteilungen erfolgten im Zuständigkeitsbereich der Staatsanwaltschaften Dresden und Leipzig, vier weitere von der Staatsanwaltschaft Görlitz. Die Zahlen für Ostsachsen haben sich im Vergleich zu 2021 kaum verändert: 77 Fällen standen 2021 acht Verurteilungen gegenüber; 2022 sind es 76 Delikte zu neun Verurteilungen.[8]

2021 wurde mit 189 registrierten antisemitischen Straftaten in Sachsen das fünfte Mal in Folge der Höchststand seit Beginn der statistischen Erhebung erreicht.[9] 2022 scheint dieser Trend vorerst gebrochen, wenngleich die Zahlen auf einem hohen Niveau verbleiben. 

Inwieweit die weiterhin hohen Fallzahlen ausschließlich durch das Grassieren des Antisemitismus im Zuge von Corona-Protestbewegung, Eskalation des Nahostkonfliktes und Ukraine-Krieg erklärt werden können, bleibt Gegenstand der Debatte. So wird die gewachsene Anzahl der erfassten Straftaten zum Teil auch mit einer höheren Sensibilisierung von Bevölkerung und Polizei begründet. Im Mai 2021 wurde beispielweise der Leitfaden „Antisemitische Straftaten erkennen und konsequent verfolgen“ vorgestellt, der seither von Polizei und Staatsanwaltschaft zur Erkennung antisemitischer Straftaten genutzt wird. Öffentlich einsehbar ist dieser nicht.

Insgesamt ist dennoch davon auszugehen, dass die gemeldeten Straftaten lediglich einen Teil aller strafrechtlich relevanten antisemitischen Vorfälle abbilden. Auf dieses Dunkelfeld weisen auch die Zahlen aus der Chronik der Beratungsstelle „Support“ hin – von 44 Einträgen, die antisemitische Äußerungen oder Taten behandeln, tauchen nur 15 in den vorliegenden Daten der Polizei auf. Die Gründe hierfür sind vielfältig: In den entsprechenden Fällen können entweder keine Anzeigen gestellt oder aber die Straftaten könnten von der Polizei vorrangig anderen Unterthemen der Hasskriminalität zugeordnet worden seien.

Mitunter zeigt sich aber auch, dass Polizei und Zivilgesellschaft die Schwere antisemitischer Vergehen unterschiedlich bewerten. Sinnbildich hierfür stehen die Auseinandersetzungen um den Volksverhetzungsparagraphen § 130 StGB. Nach Absatz 3 des Paragraphen ist die Billigung, Leugnung oder Verharmlosung des nationalsozialistischen Völkermords an den europäischen Jüdinnen*Juden strafbar. In der Praxis aber wird der Rahmen dessen, was strafbar ist, sehr eng bemessen. Das wird am Beispiel von rechten Demonstrationen anlässlich der Bombardierung Dresden am 13. Februar deutlich:

2021 wurde von Demo-Teilnehmer*innen ein Transparent mit der Aufschrift „Bombenholocaust Dresden: 13.02.1945 – 14.02.1945 – 15.02.1945“ gezeigt, das kurze Zeit später von der Polizei unterbunden wurde. Während dieser Fall in der öffentlichen Debatte als eine Verharmlosung der Shoa bezeichnet und wahrgenommen wurde, lautete die Beurteilung der Staatsanwaltschaft Dresden in der Folge jedoch, dass es sich um keine strafbare Stellungnahme handele. Im Februar 2022 wurde das Transparent erneut auf der Demonstration gezeigt, dieses Mal ungehindert. Nur wenige Tage zuvor teilte die Generalstaatsanwaltschaft Sachsen auf Nachfragen des Redaktionsnetzwerks Deutschland zum Umgang mit Holocaust-Relativierungen bei Corona-Protesten in der Justiz mit, dass sie das Zeigen von Symbolen wie das des gelben Sterns mit der Inschrift „ungeimpft“ sowie die Verbreitung von holocaustrelativierenden Aussagen grundsätzlich für strafbar halte.[10]

Das Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen hat deswegen Strafanzeige erstattet, die schließlich nach verzögerter und oberflächlicher Betrachtung durch die Staatsanwaltschaft Dresden abgewiesen wurde. Aktuell liegt die Strafanzeige der Generalstaatsanwaltschaft zur Prüfung vor. Wir treten weiterhin dafür ein, Antisemitismus klar zu benennen und konsequent zu begegnen. Nur so lässt sich dazu beitragen, das Dunkelfeld antisemitischer Straftaten zu erhellen.

 


[1] Seit März 2022: „Straftaten in den Phänomenbereichen der „Politisch motivierten Kriminalität“ (PMK)“

[2] Bei der Datengrundlage ist zu beachten, dass es sich bei den polizeilichen Meldungen um eine vorläufige Eingangsstatistik handelt. Erfahrungsgemäß können Fälle aus der Statistik zu einem späteren Zeitpunkt herausfallen, beispielsweise durch Dopplung, Zusammenführung oder die Beurteilung der Staatsanwaltschaft.

[3] Support – für Betroffene rechter Gewalt, 2022: Angriff auf Journalist*innen. Online abrufbar: https://www.raa-sachsen.de/support/chronik/vorfaelle/freiberg-5896

[4] Support – für Betroffene rechter Gewalt, 2022: Antisemitische Parolen und körperlicher Angriff. Online abrufbar: https://www.raa-sachsen.de/support/chronik/vorfaelle/oelsnitz-6141

[5] Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V., 2022: Rechte, rassistische und antisemitische Gewalt in Deutschland 2021 – Jahresbilanzen der Opferberatungsstellen. Online abrufbar: https://verband-brg.de/rechte-rassistische-und-antisemitische-gewalt-in-deutschland-2021-jahresbilanzen-der-opferberatungsstellen/

[6] Support – für Betroffene rechter Gewalt, 2022: Antisemitisches Plakat bei Coronaprotest. Online abrufbar: https://www.raa-sachsen.de/support/chronik/vorfaelle/dresden-innenstadt-5948

[7] Amadeu Antonio Stiftung, 2022: Antisemitismus und der Ukraine-Krieg. Zivilgesellschaftliches Lagebild Antisemitismus #09. Online abrufbar: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/09/220831_wigwam_aas_lagebild_2022_final.pdf

[8] Bei dieser Betrachtung ist zu beachten, dass Verurteilung und Straftaten oft nicht im selben Jahr passieren, sondern die Taten teilweise mehrere Jahre zuvor begangen wurden.

[9] Kerstin Köditz, 2022: Wieder Höchststand bei antisemitischen Taten in Sachsen. Online abrufbar: https://www.linksfraktionsachsen.de/presse/detail/news/kerstin-koeditz-wieder-hoechststand-bei-antisemitischen-taten-in-sachsen/

[10] Redaktionsnetzwerk Deutschland, 2022: Justiz geht vermehrt gegen Holocaust-Relativierung bei Corona-Protesten vor. Unter: https://www.rnd.de/politik/holocaust-relativierung-bei-corona-protesten-justiz-geht-vermehrt-dagegen-vor-V4ORV2JD3RDGTP5R5T3Y5VNK4M.html

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