Neuigkeit 9. September 2021

Ein Jahr Bündnis gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen

Vor knapp einem Jahr kamen 13 Organisationen und Vereine aus der jüdischen Community und der Zivilgesellschaft Ostsachsens zum ersten Treffen des Bündnisses gegen Antisemitismus in Dresden und Ostsachsen (BgA-Ostsachsen) zusammen. Seither ist viel geschehen. Zeit für einen Rückblick.

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Bündnismitglieder und ihre Hintergründe

Seit unserem ersten Treffen hat sich die Mitgliederzahl des BgA-Ostsachsen auf 26 verdoppelt. Dies verdeutlicht die Relevanz des Themas für viele Organisationen und Vereine aus der Region. Es ist aber nicht nur die Anzahl der Partner*innen, die Hoffnung auf zukünftige Erfolge des Bündnisses im Kampf gegen den Antisemitismus macht, sondern auch die Vielseitigkeit ihrer Hintergründe und Perspektiven. Das Bündnis vereint die Beständigkeit und Durchsetzungsfähigkeit jüdischer und migrantischer Selbstorganisationen, das selbstlose Engagement ehrenamtlicher Initiativen und die praktischen Erfahrungen der Träger*innen von Bildungs- und Beratungsprojekten.

Die Anzahl der Organisationen, ihre Diversität und unterschiedliche Perspektiven sind für die Arbeit des Bündnisses eine spannende Herausforderung: Wie bekommt man möglichst viele Teilnehmer*innen zu den regelmäßigen Treffen zusammen? Wie eröffnet man gemeinsame Räume für Diskussion und Streit? Wie dokumentiert man die Gruppenprozesse transparent und nachvollziehbar? Die meisten organisatorischen Hürden konnten wir überwinden und profitieren als heterogener Zusammenschluss nunmehr davon, dass wir das Thema Antisemitismus aus unterschiedlichen Perspektiven gemeinsam erschließen konnten.

Gemeinsame Weiterbildungen

In einer ersten Weiterbildung haben wir uns im Rahmen eines Vortrags des Historikers Stefan Schwarz vom HATiKVA e. V. mit der langen Geschichte und den aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus befasst. Dabei wurde uns die Entwicklung und Diversifizierung des Antisemitismus von seinen Anfängen im christlichen Antijudaismus über den säkularisierten Antisemitismus der Aufklärung bis hin zu seinen aktuellen Formen, dem spezifisch deutschen Schuldabwehrantisemitismus, dem israelbezogenen Antisemitismus und dem verschwörungsideologischen Antisemitismus, aufgezeigt. Dies machte uns deutlich, dass die aktuellen Formen des Antisemitismus noch immer tief in den Denkmustern und Stereotypen ihrer historischen Vorgänger verhaftet sind. So findet sich im israelbezogenen Antisemitismus u. a. die rassistische Idee einer homogenen Gruppe von Jüdinnen und Juden wieder, die stellvertretend für die Politik des Staates Israel verantwortlich gemacht wird. Ein anderes Beispiel ist der verschwörungsideologische Antisemitismus der QAnon-Bewegung, welcher analog zur antijudaistischen Ritualmordlegende behauptet, dass eine satanische Elite Kinder gefangen halte, um sich durch ihr Blut zu verjüngen.

Die lange historische Kontinuität und die gegenwärtige Virulenz des Antisemitismus führten uns zu der Frage, welche gesellschaftlichen Faktoren die stete Wiederkehr und Erneuerung antisemitischer Ideologie befeuern. Dazu hörten wir einen Vortrag mit dem Titel „Paradoxie der Selbstbestimmung“ des Philosophen Lucas von Ramin von der TU Dresden. Demnach müssen die unvollständig eingelösten Freiheitsversprechen von Naturbeherrschung, Wohlstand und politischer Selbstbestimmung als Rahmenbedingungen des grassierenden Antisemitismus in „modernen Gesellschaften“ verstanden werden. Besonders in Krisensituationen befördern sie die massenhafte Erfahrung einer tief empfundenen Frustration und Ohnmacht gegenüber den gesellschaftlichen Verhältnissen, die nach Kompensation verlangt. Die Paradoxie der Selbstbestimmung liegt nun darin, dass der Versuch der Rückerlangung von Kontrolle gerade nicht durch die Erringung der vollständigen Freiheitsversprechen gesucht wird, sondern durch die Projektion des eigenen Unmuts auf Sündenböcke: auf Jüdinnen und Juden. Zwar gibt das damit einhergehende Ausleben von Hass und Gewalt – welches heute noch durch die Echokammern diverser Social-Media-Plattformen erleichtert wird – den Individuen ein Gefühl der Selbstermächtigung, in Wirklichkeit aber bewirkt es sein Gegenteil: die Stärkung autoritärer politischer Akteur*innen und die Verfestigung eines unterkomplexen Weltverständnisses. Ein Teufelskreis, dem nach Ansicht des Referenten nur durch eine konsequente und intensive demokratische Bildungsarbeit begegnet werden kann.

Wie aber kann eine demokratische Bildungsarbeit im Themenfeld aussehen? In unserer dritten und bisher letzten Weiterbildung besprachen wir diese Frage gemeinsam mit Monique Eckmann und Gottfried Kößler anhand ihres Diskussionspapiers „Pädagogische Auseinandersetzung mit modernen Formen des Antisemitismus“. Die zentrale These des Papiers lautet, „dass antisemitismuskritische Bildung in erster Linie eine Frage der Bildung und nicht (ausschließlich) eine Frage des Objekts ist und dass infolgedessen das Primat pädagogischer Grundsätze – das bedeutet im Kern die Prozessorientierung – geboten ist.“ Daher ist es zentral, durch vielfältige (sozial-)pädagogische Methoden zunächst Fragen, Zweifel und Dissonanzen zum Thema zu erzeugen und so der gesellschaftlichen Nicht-Thematisierung von Antisemitismus zu begegnen. Entscheidend ist in ihren Augen dabei weiter ein anerkennungspädagogischer Ansatz, der auch den Raum für kontroverse Äußerungen lässt. Kontroversität darf dabei jedoch nicht mit fehlender Haltung verwechselt werden: Offensichtlich antisemitische Äußerungen sind offen zu konfrontieren und die Grenzen zwischen Argumenten und Hassreden klarzustellen. Zum anderen fordern Eckmann und Kößler, dass antisemitismuskritische Bildungsarbeit ihre Perspektive reflektieren muss. Findet sie aus der Perspektive der Mehrheitsgesellschaft statt, heißt das vor allem, jüdische Perspektiven sowie die anderer Minderheiten auf das Thema zu stärken und in die eigene Arbeit zu integrieren.

Problemanalyse und Ziele

Im Anschluss an unsere Weiterbildungen waren wir bei unseren regelmäßigen Bündnistreffen in der Lage, uns ein umfangreiches Bild über das Auftreten und die jeweiligen Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Region Dresden und Ostsachsen zu verschaffen und über Wege nachzudenken, wie diesem effektiv begegnet werden kann. Neben der Planung unserer ersten öffentlichen Veranstaltungen, der Podiumsdiskussion „Aktualität des Antisemitismus in Ostsachsen“ am 5. September 2021 in Dresden und dem „Fachtag zu jüdischer Regionalgeschichte in Ostsachsen“ am 25. November 2021 in Pirna, kamen wir zu den folgenden Ergebnissen:

Unserer Einschätzung nach ist der Antisemitismus in Ostsachen nahezu überall, in all seinen ideologischen Facetten und in Form verschiedenster Delikte anzutreffen. Er äußert sich z. B. im Zeigen eines verschwörungsideologischen Filmes in einer Berufsschule in Löbau, in der weitverbreiteten Verwendung des Wortes „Jude“ als Beleidigung, in Form der Gleichsetzung von Corona-Schutzmaßnahmen und NS-Verbrechen auf Demonstrationen an der B96 in Dresden, Pirna, Bautzen, Görlitz und vielen anderen Orten oder in Sachbeschädigungen an jüdischen Kultureinrichtungen sowie Orten der Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus. Er äußert sich aber auch in körperlichen Angriffen auf „Gutmenschen“, die Teil des von der Neuen Rechten kolportierten Projekts eines „Großen Austauschs“ seien, oder auf Demonstrant*innen, die während des erneuten Aufflammens des Nahostkonflikts ihre Solidarität mit Israel in der Innenstadt von Dresden zum Ausdruck brachten.

Es sind diese gewalttätigen Auswirkungen des Antisemitismus, die sowohl Jüdinnen und Juden als auch unser demokratisches Gemeinwesen zum Ziel haben, die uns als Bündnis zum Handeln verpflichten. Daher begrüßen wir es, dass in Sachsen eine Melde- und Beratungsstelle für Antisemitismus entstehen wird, und erhoffen uns von ihr ein detaillierteres Bild über die Formen und das Ausmaß des Antisemitismus. Zum anderen haben wir die Hoffnung, dass die Melde- und Beratungsstelle zu einem starken Partner der Jüdinnen und Juden in der Region wird und ihnen bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegenüber Exekutive, Justiz und Gesellschaft helfen kann. Ein Anliegen, das wir nur zu gerne mit unserer Bündnisarbeit unterstützen möchten.

Die (Selbst-)Sicherheit jüdischen Lebens wird aber nicht nur, und kann auch gar nicht ausschließlich, von einem starken Staat abhängig sein. Vielmehr, und das ist das zweite Anliegen unserer Bündnisarbeit, bedarf sie einer Anerkennung und Solidarität aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Und damit sind auch wir, die nichtjüdischen Bündnispartner*innen angesprochen, von denen bisher zu wenige mit Jüdinnen und Juden im aktiven Kontakt stehen. Wir sehen unsere Aufgabe darin, eine Brücke zwischen der jüdischen Community und der Zivilgesellschaft in Dresden und Ostsachsen zu schlagen und damit zu einem besseren Verständnis der spezifischen Probleme und Herausforderungen jüdischen Lebens beizutragen. Dies ist ein erster notwendiger Schritt, um die Anliegen und Bedürfnisse der jüdischen Community effektiv unterstützen zu können.

Dazu gehört unserer Meinung nach auch, dass antisemitische Vorfälle klar benannt werden und öffentliche Solidarität und politische Reaktionen zur Folge haben. Als Bündnis wollen wir unsere Kommunikationskanäle stärken, um schneller mit gemeinsamen Veröffentlichungen reagieren zu können. Dabei ist es uns wichtig, auch in der Öffentlichkeit Präsenz zu zeigen und so die Solidarität mit der jüdischen Community auszudrücken. So wie am 24. Juni 2021 vor der Neuen Synagoge in Dresden, wo wir gemeinsam mit vielen anderen Organisationen deutlich machten, dass Jüdinnen und Juden nicht allein im Kampf gegen den Antisemitismus stehen und dass wir nicht lockerlassen, bevor Antisemitismus als Gefahr und Herausforderung der gesamten Gesellschaft anerkannt wird.

Bis das erreicht sein wird, bleibt allerdings noch viel für uns zu tun!

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