Prozessdoku 23. Januar 2024

Sechster Verhandlungstag: Prozess um Ausschreitungen 2018 in Chemnitz

Sechster Prozesstag am 9. Januar 2024

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Beginn

Ein weiterer Prozesstag beginnt um kurz nach 9 Uhr am Landgericht Chemnitz. Heute steht die Befragung von betroffenen Zeug*innen aus der Gruppe um die Marburger SPD und deren Bundestagsabgeordneten auf dem Programm. Der Zuschauer*innenraum ist erneut gut gefüllt. Aus Sicht der Presse scheint es kaum Interesse am Geschehen im Gerichtssaal zu geben. Wie auch schon am vorherigen Verhandlungstag bleiben die meisten Stühle unbesetzt.

Zeugenaussage 1 eines Betroffenen

Der heute über 60 Jahre alte Zeuge berichtet wie die anderen Betroffenen aus der Marburger Gruppe von der Anreise, dem Besuch der „Herz statt Hetze“ Demonstration und dem anschließenden Rückweg zum Bus. Er habe sich im mittleren Teil der langgestreckten Gruppe befunden, als plötzlich fünf bis sechs Personen auftauchten, bewaffnet mit Baseballschlägern. Einer näherte sich ihm in einem Abstand von fünf bis sechs Metern und rief laut nach den Flaggen, die sie trugen. Angesichts der beängstigenden Situation warf er seine sofort weg. Ein anderer aus seiner Gruppe zeigte die mitgeführte SPD-Fahne. Sie seien  als „Verräter“ oder „Deutschlandverräter“ beschimpft worden, bevor von ihnen abgelassen worden sei.

Ihm selbst wurde keine körperliche Gewalt angetan und er habe auch nicht gesehen, dass jemand anderes Gewalt durch die Angreifer erlebt hat. Im Bus erfuhr er, dass eine Person aus seiner Gruppe durch den Park verfolgt wurde. Er erinnert sich noch daran, dass diese kaum sprechen konnte und sichtlich geschockt war. Er erkennt heute keinen der Angeklagten als mögliche Tatbeteiligte wieder.

„Mein Sicherheitsgefühl hat durch das Erlebte schwer gelitten. Mit den Jahren hat sich das gelegt, aber mit der Ladung kam das jetzt alles wieder hoch. Ängste, insbesondere Angst auf größere Veranstaltungen zu gehen. Ich würde nicht von Trauma sprechen. Aber da ist auf jeden Fall was geblieben, was so vorher nicht war.“, sagt er zum Abschluss seiner Befragung.

Zeugenaussage 2 einer Betroffenen

Die Zeugin beginnt ihre Aussage mit brüchiger und flattriger Stimme. Zwischendurch ringt sie mit den Tränen. Ihre Angst ist bis in den Zuschauer*innenraum spürbar.

Sie schildert, wie sie sich gemeinsam mit zwei Freund*innen im hinteren Teil der Gruppe von der „Herz statt Hetze“-Demonstration zum Bus bewegte. Sie seien bewusst beieinander geblieben, da sie auf der Demonstration den Hinweis erhalten hatten, aus Sicherheitsgründen nicht alleine zu gehen. Als sie die Zschopauer Straße erreichten, kam eine Gruppe von ca. 15 Männern auf sie zu gerannt, die Schlagwerkzeuge, wie Baseballschläger oder ähnliches in den Händen hielten. Sie erinnert sich nicht mehr genau an das, was gerufen wurde, aber dann hörte sie jemanden sagen: „Seid froh, dass ihr Fotzen dabeihabt, sonst würden wir euch behindert schlagen.“ Sie hatte umgehend den Reflex wegzurennen, tat dies jedoch nicht, da ihre Begleiter*innen stehen blieben. Sie hat gesehen, wie die Angreifer anderen Personen aus ihrer Gruppe Fahnen aus den Händen rissen. Im Augenwinkel konnte sie beobachten, dass jemand ins Gesicht geschlagen wurde und dabei seine Brille verlor. „Das alles ging unglaublich schnell“, sagt sie und schätzt die Dauer auf etwa eine Minute. Ihr schien es, als seien die Angreifer nach dem ersten Ansturm auf die Gruppe gezielt auf zwei Personen losgegangen und hätten  diese in den Park verfolgt. Eine der beiden Personen sei eine Person of Color (nicht-weiße Person). „Wir hatten Sorge, dass unsere zwei fehlenden Leute gerade im Park verprügelt werden oder schlimmeres. Deshalb waren wir sehr aufgebracht“, beschreibt sie die Situation.

Kurz darauf traf eine Polizeistreife ein. Einer der Polizisten gab über Funk die Information weiter, es habe einen Zusammenstoß zwischen rechts und links gegeben. „Das hat uns verwirrt, weil wir wurden einfach nur angegriffen“, sagt sie heute. Die Polizei begleitete die Gruppe zu ihrem Bus, nahm jedoch bis zu dessen Erreichen keine Beschreibung der Situation auf. Am Bus wurden von allen Geschädigten die Personalien erfasst. „Ich habe damals zum ersten Mal Todesangst gespürt. Dieses Gefühl wird bis heute immer wieder ausgelöst. Ich habe seither Angst, dass mir so was nochmal passieren könnte. Ich hatte auch danach Angst, dass mich jemand verfolgt. Es hat mir auch Angst gemacht, dass es für uns negative Konsequenzen haben könnte, dass wir Teil des Gerichtsprozesses sind. Ich habe davor noch nie so etwas in meinem Leben erlebt. Ein solches Gewaltpotenzial habe ich davor noch nicht erlebt oder gesehen. Deshalb hatte ich auch große Angst, dass denen, die verfolgt wurden etwas passiert“, beschreibt sie.

Ob die drei Beschuldigten damals Teil der Angreifergruppe waren, kann sie heute nicht mehr sagen. Sie meint, dass viele der Gruppe dunkel gekleidet waren. Sie erinnert sich daran eine rote und mindestens eine blaue Jacke gesehen zu haben. In einer früheren Vernehmung, im Sommer 2020, wurden ihr Fotos vorgelegt. Damals gab sie an Lasse R. könnte aufgrund seiner Statur der Mann gewesen sein, der den „Fotzen“-Satz gerufen hat. Heute bestätigt sie diese Aussage und fügt hinzu, dass sie nicht sicher sagen kann, ob die blaue Jacke, die er auf dem Foto trägt, jene Jacke ist, die sie damals gesehen hat. Zu dem Bild von Pierre B. gab sie 2020 an, dass ihr das Gesicht, insbesondere die markanten Augenbrauen bekannt vorkommen. Auch dies bestätigt sie heute. 

 „Ich habe eine große Gewaltbereitschaft in der Gruppe wahrgenommen. Sie kamen mir sehr zielgerichtet vor. Sie wussten was sie taten. Die waren vorbereitet und als Gruppe gemeinsam organisiert. Das schien nicht das erste Mal, dass sie so was gemacht haben. Es gab eine klar erkennbare Gruppendynamik. Sie kamen alle geschlossen und gezielt auf uns zu gerannt“, beschreibt sie die Angreifer.

In den ersten Jahren danach konnte sie keine Demonstration besuchen. Doch auch wenn ihr das heute wieder möglich sei, trägt sie seit damals eine andere Art von Sorge mit sich herum. „Ich schaue mich genau um und bin vorsichtig geworden.“, sagt sie.

Der Verteidiger von Timo B. geht darauf ein, dass sie in ihrer Aussage im Sommer 2020 keine Angaben darübergemacht hatte, dass die Angreifer Baseballschläger oder ähnliches bei sich trugen. Nebenklageanwalt Onur Özata beanstandet dessen stakkatoartige Befragung der Zeugin als unzulässig. Daraufhin übernimmt der vorsitzende Richter das Wort und fragt die Zeugin nach der damaligen Vernehmungssituation. Diese habe sie als sehr belastend erlebt. Wegen der damaligen Coronabestimmungen habe sie keine Begleitung in die Vernehmung mitnehmen dürfen und habe das Protokoll aufgrund ihrer hohen Belastung damals einfach unterschrieben ohne es noch einmal gelesen zu haben.

Zeugenaussage 3 einer Betroffenen

Der vorsitzende Richter Zöllner geht zu Beginn der Aussage darauf ein, dass dem Antrag der Zeugin auf psychosoziale Prozessbegleitung nicht stattgegeben wurde. Gründe für diese Entscheidung nennt er nicht.

Die Zeugin war mit der zuvor Gehörten und deren Partner zu dritt auf dem Weg von der Demonstration zum Bus. Als sie den Park durchquert hatten und die Zschopauer Straße betraten, habe sie eine Gruppe von Menschen bemerkt, die aus einer Seitengasse oder einer Einfahrt kam. Sie hörte, wie sie jemand als Zecken bezeichnete, dann rannte die Gruppe auf sie zu. „Mir stand jemand gegenüber, der mir Gewalt angedrohte. Deshalb habe ich nicht viel mitbekommen, von dem was um mich herum passierte“, sagt sie. Er habe sie gefragt, ob sie sich prügeln wolle. Dies war allerdings weniger eine Frage, sondern mehr eine Androhung von Gewalt. „Er hatte einen sehr starren Blick. Er hatte was in der Hand, ich kann aber nicht sagen was.“ In einer früheren Befragung hatte sie angegeben, dass er einen dicken Knüppel aus Holz in der Hand hielt. An dieses Detail kann sie sich heute nicht mehr erinnern. Woran sie sich noch zu gut erinnere ist, dass sie ihm ins Gesicht gesehen habe und wie deutlich er ihr mit Prügel drohte. Sie war sich sicher, dass sie, sollte es zu einem körperlichen Angriff kommen, schwerwiegende Folgen davontragen würde. Der Angreifer habe sich vor ihr aufgebäumt und dabei eine starke körperliche Präsenz gehabt, ergänzt sie. Ob er Handschuhe trug, kann sie heute nicht mehr mit Gewissheit sagen, auch wenn sie dies in ihrer früheren Vernehmung angegeben hatte. Des Weiteren hat sie mitbekommen, dass eine männliche Person aus ihrer Gruppe einen Schlag ins Gesicht bekommen hat. 

Sie vermutet, dass ihre Gruppe dann doch nicht so gut in das Raster der Angreifer gepasst habe und beschreibt, dass es ihr so vorkam, als wären die Angreifenden durch ihre Gruppe „durchgelaufen“. Der Fokus lag dann augenscheinlich bei drei anderen Personen  der Marburger Reisegruppe, die dann in den Park verfolgt worden seien. Sie habe versucht Passant*innen auf der Straße anzuhalten und um Hilfe zu bitten, was aber misslang. Jemandem aus ihrer Gruppe gelang es vorbeikommende Polizist*innen anzusprechen. Zu diesem Zeitpunkt stießen die drei Personen, die in den Park verfolgt worden waren, wieder zur Gruppe.

Auch sie kann sich deutlich an die Aussage eines Polizisten erinnern, dass es einen Vorfall gegeben hätte „mit rechts gegen links. „Das wurde aus unserer Gruppe korrigiert, denn wir haben in keiner Weise eine Auseinandersetzung gesucht“, stellt sie klar. Einigen Frauen aus ihrer Gruppe seien Obszönitäten hinterhergerufen worden, die polizeilich nicht erfasst wurden, da der anwesende Polizist das nicht für relevant gehalten habe. „Das habe ich als sehr unsensibel wahrgenommen. Denn für die Frauen war das sehr bedrohlich“, fügt sie hinzu.

Auf der Anklagebank erkennt sie Timo B. als einen der Angreifer wieder. Auf Rückfrage, woran, entgegnet sie: „Am Gesicht“. Nach fünf Jahren finde sie das allerdings schwierig, da sich Menschen in dieser Zeit sehr verändern können. Es könne daher auch sein, dass er jemandem, der damals dabei war, ähnelt. Sie ergänzt, dass die Person, die ihr damals gegenüberstand, nicht im Gerichtssaal sitzt. Diesen erkennt sie als Pierre B. auf einem der vorgelegten Fotos. Auch Lasse R. meint sie zu erkennen und sich daran zu erinnern, dass er damals die Demo auf dem Social-Media-Kanal „Instagram“ dokumentierte. Timo B. kann sie auf dem Foto von damals nicht wiedererkennen. Sie habe Erinnerungen an eine Person in weißem T-Shirt und Fischerhut, ist sich allerdings nicht sicher, ob das ihre Erinnerung aus der damals erlebten Situation ist, oder aus ihre nachträglichen Recherche zur Demonstration und deren Teilnehmer*innen. Die Gruppengröße der Angreifer zu schätzen, falle ihr heute schwer, zum einen, weil die Situation bereits fünf Jahre zurückliegt, zum anderen weil ihr Fokus ein anderer gewesen sei. In einer früheren Befragung gab sie eine Größe von 15 bis 20 Personen an. Heute sagt sie, es können auch nur zwölf gewesen sein.

Strafverteidiger Werner Siebers fragt zum Ende der Aussage detailliert, wie die Vorlage der Fotos bei der Polizei abgelaufen sei: wie viele Fotos seien ihr vorgelegt worden, wie viele habe sie kommentiert, haben die befragenden Polizist*innen alle Kommentare vollständig dokumentiert? Bevor er seine Fragen an die Zeugin richtet, stellt er gegenüber allen Anwesenden klar, dass er selbst unpolitisch und in keiner Szene verankert sei undhier lediglich als Strafverteidiger arbeite.

Zeugenaussage 4 eines Betroffenen

Der Zeuge erinnert sich, dass während der „Herz statt Hetze“ Demonstration auf der Bühne gesagt wurde, dass sie nicht alleine nach Hause gehen sollen, da organisierte Nazi-Gruppen unterwegs seien. Daher lief er in einer Dreiergruppe mit seiner Partnerin und seiner Mitbewohnerin. Er beschreibt, dass sie damals in lockerer Stimmung einen Park durchquerten und gerade auf dem Bürgersteig einer Straße ankamen, als jemand rief: „Ey, da sind Zecken!“. Er habe dann 15 bis 20 Personen auf sie zu rennen sehen, bei zwei bis drei von ihnen habe er Knüppel oder andere Schlaggegenstände in den Händen erkannt. Er habe seine Hände hoch gerissen, um zu deeskalieren, stand jedoch wie in Schockstarre da. Er habe gesehen, dass rechts von ihm jemand einen Schlag ins Gesicht bekommen habe und links von ihm einer der Angreifer Fahnen eingesammelt  und dann zerbrochen habe. Als diese Person bei ihm vorbei kam, sei sich sicher gewesen, körperlich angegriffen zu werden. Stattdessen rief ihm aber die Person entgegen: „Seid froh, dass ihr Fotzen dabeihabt, sonst hätten wir euch behindert geschlagen.“ „Ein Satz, der mich die nächsten Jahre begleitet hat. Damals bin ich in Schock verfallen. Habe wiederholt, dass wir zusammenbleiben sollen. Eher aus Hilflosigkeit, als aus Strategie“, sagt er heute..

Im weiteren Verlauf habe er einer Person aus seiner Gruppe geholfen, seine Brille wieder zu finden. Er erinnert sich noch daran, dass eine Polizeistreife vor Ort war und dass einer der Polizisten sagte, es habe einen Zusammenstoß zwischen rechts und links gegeben. Dies habe ihn sehr verärgert, erinnert er sich deutlich. „Dann mussten wir viel Arbeit leisten, damit wir von der Polizei noch zum Bus begleitet wurden. Am Bus wurden nur die Leute erfasst, die körperlich geschädigt wurden. Dass auch ich eine Anzeige aufgeben kann, habe ich erst später erfahren“, erzählt er.

Bis auf den Schlag ins Gesicht habe er keine körperlichen Angriffe gesehen, auch keine Schlagwerkzeuge wie Knüppel o.ä. Von den Personen auf der Anklagebank kann er keine von damals wiedererkennen.

In einer früheren Vernehmung konnte er Lasse R. klar als diejenige Person erkennen, die den „Fotzen“-Spruch rief. Heute ergänzt er, dass ihm jemand kurz nach dem Angriff ein Foto von Lasse R. zeigte, woraufhin er fast zusammengebrochen sei. An Kleidung oder Marken erinnere er sich nicht. Er habe damals einen Tunnelblick gehabt. Welche Farbe die Kleidung Lasse R.‘s hatte könne er heute nicht mehr sagen.

„Die ersten zwei Wochen bin ich nicht viel rausgegangen. Ich hatte regelmäßig, also mehrmals am Tag, Zusammenbrüche davon. Das Gefühl und der Gedanke, okay, jetzt bringen sie uns um, kam in mir hoch. Normalerweise konnte ich immer weglaufen. Aber in dem Moment war ich wie versteinert. Diese Todesangst hat mir in den ersten zwei Wochen viele Zusammenbrüche verschafft. Ich konnte erst zwei Jahre nach dem Erlebten darüber reden. Mittlerweile hat es sich durch viele Gespräche langsam verbessert. Das, was ich davor gemacht habe, kann ich jetzt nicht mehr machen. Es hat nachträglich mein Leben verändert. Ich konnte auch nicht mehr auf Demos gehen oder nur in einem sehr sicheren Rahmen – mit Weglauf-Option“, schildert er die Folgen für ihn.

Zeugenaussage 5 einer Betroffenen

Auch diese Zeugin war aus Marburg im Reisebus angereist und kam auf dem Rückweg von der „Herz statt Hetze“ Demonstration durch den Park. Sie lief weiter hinten in der Gruppe und unterhielt sich gerade mit zwei Freund*innen als sie gesehen habe, dass eine Menschengruppe mit Baseballschlägern oder Stangen in Händen auf sie zu kam. Ein Teil aus dieser Gruppe zeigte auf sie und habe gerufen: „Da sind auch noch scheiß Zecken!“ Die seien dann direkt auf sie zu gerannt. „Ich habe zu 100% damit gerechnet, dass mir Schläge drohen, allein durch das Gebaren der Personen und die Tatsache, dass sie bewaffnet waren. Auch wenn das nicht explizit so gesagt wurde.“.

Sie und ihre fünf Begleiter*innen seien in Richtung Demonstration vor den Angreifern weggelaufen. Als sie bemerkte, dass ihr niemand mehr folgte, habe sie sich umgedreht und versucht auf der Straße Passant*innen anzusprechen. Anschließend lief sie zurück zu ihrer Gruppe. Auch sie beschreibt, dass sie von einer Polizeistreife zurück zum Bus begleitet wurden und dort erste Fragen gestellt und Personalien von Geschädigten aufgenommen worden seien. Später im Bus habe sie erfahren, dass zwei aus ihrer Gruppe geschlagen wurden und einigen Jusos die Fahnen entrissen und die Fahnenstangen zerbrochen wurden. Sie erinnert sich daran, dass einer der Angreifer ein weißes T-Shirt und einen Anglerhut getragen habe und das derjenige war, der die anderen darauf hinwies, dass da auch noch „Zecken“ seien. Ob jemand von der Anklagebank damals beteiligt war könne sie nicht sagen. Lasse R. und Pierre B. hatte sie in einer früheren Vernehmung als Angreifer erkannt, allerdings nicht innerhalb der kleineren Gruppe, die auf sie zu gerannt war. Mark B. habe sie damals anhand der roten Jacke erkannt. Sie wies in der früheren Vernehmung auch darauf hin, dass diese Jacke offensichtlich in der Gruppe getauscht worden sei. Das habe sie im Nachgang der Tat recherchiert. An Vermummungen oder Handschuhe habe sie keine Erinnerung.

Zeugenaussage 6 eines Betroffenen

Auch dieser Zeuge schildert den Rückweg von der „Herz statt Hetze“ Demonstration zum Reisebus aus Marburg. Aus einer Seitenstraße sei eine Gruppe von etwa 15 – 20 Personen mit Gebrüll herausgestürmt. Er habe die Situation zunächst nicht klar einschätzen können und ging drei Schritte rückwärts in den Park. Er meint, dass Fahnenstangen zerbrochen worden seien. Er habe gesehen, dass die angreifenden Personen Gegenstände in den Händen hielten und einer von ihnen einen Anglerhut trug. Es folgte ein Tumult und ein Freund von ihm habe gesagt: „Das sind Nazis. Wir müssen hier weg!“. Daraufhin sei er mit zwei weiteren Personen in den Park geflohen. Als er sich umdrehte, habe er gesehen, dass Teile oder die ganze Gruppe hinter ihnen herliefen. „Einer aus der Gruppe hat mit dem Finger auf uns gezeigt und so etwas gesagt wie „Wir kriegen euch!“. Wir haben gemerkt, dass wir schneller sind. Wir rannten ein Stück in den Park hinein und konnten sie abhängen.“ Sie sahen, dass die Angreifer in eine andere Richtung weiterliefen, warteten im Park noch einen Moment ab und kehrten dann zu ihrer Gruppe zurück. In Polizeibegleitung liefen sie anschließend gemeinsam mit dem Rest ihrer Gruppe zum Reisebus. Weder er, noch sein Freund, der mit ihm in den Park geflohen sei, wurden körperlich angegriffen. Später habe er erfahren, dass andere aus der Gruppe getreten wurden, selbst gesehen habe er dies nicht. Von der Anklagebank kann er niemanden von damals wiedererkennen. Auch in einer früheren Vernehmung konnte er niemanden der Angreifer erkennen. Lediglich an eine Person mit Fischerhut habe hatte er sich damals erinnert. „Von denen, die uns verfolgt haben, hatten einige Gegenstände in den Händen. Es kam mir wie Baseballschläger vor. Zumindest hatten die Gegenstände diese Größe“, entgegnet er auf die Frage, ob die Angreifer bewaffnet waren.

Strafverteidiger Werner Siebers stellt erneut Detaillfragen zum Ablauf der Fotovorlage  bei der Polizei. Auf Grund des großen zeitlichen Abstandes kann der Zeuge diese aber nicht präzise beantworten. Nach der Befragung legt Herr Siebers Widerspruch gegen sämtliche Lichtbildvorlagen der Polizei in diesem Fall ein, da nur Lichtbilder der Verdächtigen vorgelegt worden seien. Der Widerspruch wird vom Gericht nicht weiter kommentiert oder anderweitig beachtet.

Zeugenaussage 6 eines Betroffenen

Der Zeuge schildert ebenfalls den Rückweg von der „Herz statt Hetze“ Demonstration. Er hatte gerade die Straße erreicht, als eine Gruppe von 15 bis 20 Personen um eine Hausecke gekommen sei. „Es wirkte auf mich so, als hätten sie dort gelauert. Ich musste erst mal realisieren, was da gerade passiert. Ich habe dann realisiert, dass viele davon bewaffnet waren. Es hat mir die Szenen vor Augen geführt, die man von den vorherigen Tagen aus Chemnitz kannte. Ich dachte, ja, das ist jetzt wohl so.“. Er hörte wie jemand rief „das ist `ne antifaschistische Fahne“ oder „das sind linke Zecken“. Ein Mensch mit Anglerhut und Sonnenbrille habe auf ihn gezeigt, woraufhin die angreifende Gruppe angerannt gekommen sei. Er habe sich genötigt gesehen davon zu laufen, „weil wir ahnten was passiert, wenn wir das nicht machen.“ Als sie sich im Weglaufen umdrehten, sahen sie, dass sie die Angreifer abgehängt hatten. Diese hätten sich an einer anderen Stelle des Parks wieder zusammengefunden. Daran sei für ihn erkennbar gewesen, dass es sich bei den Angreifern um eine geschlossene Gruppe handelte. Er sah, dass sie gemeinsam ihren Weg fortsetzten.

Er habe nicht gesehen, dass jemand aus seiner Gruppe geschlagen wurde. Erst später am Bus erfuhr er davon. Dort habe er auch erfahren, dass jemand zum Boxen aufgefordert worden sei. Auf der Anklagebank kann er niemanden wiedererkennen. In einer früheren Befragung hatte er Lasse R. als Teil der angreifenden Gruppe erkannt. Zu Pierre B., Mark B. und Timo B. sind seine Angaben vage gewesen. Er erinnerte sich damals an eine rote Jacke und auch die Jacke von Timo B. sei ihm bekannt vorgekommen. Auch er gab in der damaligen Befragung an, dass die Jacken untereinander getauscht worden seien. Er brachte selbst recherchierte Bilder mit in die damalige Befragung.

„Ich habe Todesangst gespürt. Das war das erste Mal, dass ich das gespürt habe, das war für mich gänzlich neu. Das eine Person auf mich gezeigt hat, war wohl kein Zufall, da ich als nicht-deutsch gelesen wurde. Was bleibt ist ein seelischer Schaden. Das hat sich eingebrannt. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen können.“ Er fügt hinzu: „Ich wünsche niemandem um sein Leben rennen zu müssen. Immer wenn das in einer anderen Situation hochkam, also, wenn sich z.B. jemand mir von hinten näherte, war das ein Schreckmoment. Das kannte ich vorher von mir nicht. Auch wenn Chemnitz zur Sprache kam, war ich erst mal wieder in diesen negativen Gedanken. Das ist nicht weg. Das hat sich eingebrannt. Ich glaube nicht, dass das wieder geht. Ich glaube man kann da keine Gerechtigkeit schaffen. Ich musste in dem Wissen leben, dass die Täter weiterhin auf freiem Fuß sind. Ich habe mich im Stich gelassen gefühlt. Das trägt nicht dazu bei, dass sich das Gefühl verbessert, sondern eher verschlechtert.“

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