Prozessdoku 9. Januar 2024

Dritter Verhandlungstag: Prozess um Ausschreitungen 2018 in Chemnitz

Dritter Prozesstag am 18.12.2023

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Beginn

Auch der dritte Prozesstag beginnt gegen 9:15 Uhr mit der Feststellung der Anwesenheit. Sowohl auf der Seite der Beschuldigten, als auch auf der, der Nebenklagevertreter*innen, sind alle anwesend – außerdem Werner Siebers als weiterer Pflichtverteidiger für Timo B., da ihn Rechtsanwalt Martin Voß zukünftig nicht mehr vertreten wird. Der zum letzten Prozesstag nicht erschienene Zeuge wurde vorgeführt und ist anwesend. Er wird als erster gehört.

Zeugenaussage 1 eines Geschädigten

Der Zeuge erklärt gleich zu Beginn, dass er keine wirklichen Erinnerungen mehr an das hat, was vor fünf Jahren passiert ist. Er habe an dem Tag eine Freundin besucht und sei auf dem Weg von der Innenstadt zum Hauptbahnhof gewesen, um mit dem Zug zurück nach Dresden zu fahren. Dabei sei er in etwas rein geraten – zwei Gruppen, die sich getroffen und einen Konflikt miteinander gehabt hätten - so schildert er das Szenario. Er hätte sich umgedreht und einen Faustschlag aufs Auge bekommen. Von wem dieser kam und welcher Gruppe die Person angehörte, kann er nicht sagen. Von politischen Motiven der Gruppen oder einer aggressiven Stimmung habe er nichts mitbekommen, auch an laute Rufe könne er sich nicht erinnern. Auf Nachfragen zu den vielen tausend Menschen, die sich an diesem Tag in Chemnitz befanden, reagiert der Zeuge ausweichend und verweist auf große Erinnerungslücken und Müdigkeit. Er schildert, dass er sich nach dem Schlag auf sein Auge an einen Laternenpfosten setzte. Dort habe ihn später der Rettungswagen abgeholt. Zuvor habe ihm jemand Hilfe angeboten und auch den Rettungswagen für ihn gerufen. Durch den Schlag aufs Auge zerbrach die Brille, was eine Schnittverletzung am Augenlid verursachte, welche genäht werden musste. Heute hat er keine Probleme mehr mit dem Auge. Für die Brille hätte er eine Entschädigung von 25,- € bekommen, worum er sich allerdings nicht gekümmert hat. Dass sich damals jemand bei ihm entschuldigt habe, wie einer der Angeklagten geschildert hatte, erinnert er nicht mehr. Im Gerichtssaal hat er niemanden aus der Situation am 1. September 2018 wiedererkannt.

Zeug*innenaussagen von Geschädigten

Vier Zeug*innen aus einer Gruppe Geschädigter, die damals gemeinsam aus Hannover zur „Herz statt Hetze“-Demonstration nach Chemnitz gereist war, schildern folgendes Szenario: Als sie nach der Demo auf dem Rückweg zu ihrem Auto waren, leitete die Polizei ihren Weg von der Bahnhofstraße in die Moritzstraße um. An der Kreuzung Annabergerstraße warteten sie an einer roten Ampel, als eine Gruppe von Männern auf sie zu gerannt sei. Einer habe gerufen: „Das sind ja gar keine Zecken, die laufen nicht weg.“ Die vier Zeug*innen beschrieben diese Person als aktiv agierendes Mitglied der Angreifergruppe und erkannten sie auf später vorgelegten Bildern als Lasse R. Eine Zeugin schildert, dass sie „Heil Hitler“ Rufe gehört habe. Ein weiterer Zeuge erkennt in Lasse R. den Anführer der Gruppe. Keine*r der vier habe damals Personen aus der Gruppe gekannt und auch im Gerichtssaal haben die Zeug*innen niemanden wiedererkannt.

Alle vier Zeug*innen hätten beobachtet, wie eine Person aus der auf sie zu rennenden Gruppe, einer anderen Person, die nicht zu ihrer Gruppe gehörte, ein Schild aus dem Rucksack riss und dieses über dem Knie zerbrach. Körperverletzungen wie Schläge oder Tritte habe keine*r der vier gesehen. Aber sie erinnerten, dass Menschen geschubst worden seien. Ein Zeuge schildert, dass jemand in seine Richtung rief: „Uns stechen sie ab und ihr seid am Tanzen.“ und dass er eine Parole die mit „Adolf Hitler Hooligans“ endete gehört habe.

Eine Zeugin hat Baseballschläger bei den Angreifenden gesehen. „Ob es Schläge gab, dass weiß ich nicht. Die Situation war für mich bedrohlich. Ich hatte Angst. Ich stand da und eine große Gruppe kräftiger Männer mit bedrohlichem Gesichtsausdruck rannte auf uns zu. Ich hatte Angst vor irgendeiner Art von Gewalt.“, fasst sie das Erlebte zusammen.

Nach diesem Ereignis und bevor es nach Hannover zurückging, ist die Gruppe gemeinsam zu McDonalds gegangen. „Um sich erst mal wieder sicher zu fühlen und gemeinsam über das Erlebte zu sprechen.“, so beschreiben sie es heute. Auf alle hatte es eine ängstigende und bedrohliche Wirkung und Auswirkungen auf die Zeit danach. Sie bereiten sich heute anders vor, wenn sie zu einer Demonstration in einer anderen Stadt fahren, berichten sie. Sie studieren Stadtpläne und planen den Rückweg. „Heute gehe ich nicht mehr auf solche Veranstaltungen, wenn ich weiß, es könnte hitziger werden. Dann lass ich das. Es hatte auf uns alle Auswirkungen – im negativen Sinne“, so eine der Zeuginnen.

Zeugenaussagen zweier Geschädigter

Zwei weitere Aussagen aus einer Gruppe von insgesamt drei Personen ergänzen das durch die vorherigen Zeug*innenaussagen entstandene Bild des Tatgeschehens. Auch diese Gruppe habe sich auf dem Heimweg von der friedlichen und störungsfreien „Herz statt Hetze“-Demonstration befunden und sei ebenfalls von der Polizei in die Moritzstraße geleitet worden. Auch sie standen an der Ampel der Straßenkreuzung Annabergerstraße/Moritzstraße, als eine Gruppe von aggressiven Männern auf sie zu gerannt sei. Es seien Rufe zu hören gewesen, wie „da sind noch mehr Zecken“, „Adolf Hitler unser Führer“ und „Verpisst euch aus Chemnitz!“. Die Gruppe sei zur Seite geschubst worden. „Jemand brüllte ‚Zecken‘ und dann rannten sie unvermittelt auf uns zu. Es ging dann sehr schnell, es schepperte und knallte und krachte hinter mir. Ich sah, dass ein selbstgemaltes Plakat und eine Regenbogenfahne auf der Straße zerschlagen wurden. Ich brüllte „Lass die in Ruhe“, dann haben wir uns sehr schnell aus dem Staub gemacht.“, so einer der beiden Zeugen.

Keiner der drei wurde tätlich angegriffen. Die beiden Zeugen haben keine Schlagwerkzeuge bei den Angreifenden gesehen und können sich auch nicht erinnern, ob Handschuhe getragen wurden. Lasse R. haben beide sicher erkannt, beschreiben ihn als Wortführer der Gruppe und denjenigen, der am aggressivsten auftrat. Die Beschuldigten im Saal erkennen sie nicht als Personen, die damals beteiligt waren.

Allen Zeug*innen wurden Fotos von Lasse R. vorgelegt. Auf einem Foto trägt er eine knallrote, auf dem anderen eine dunkelblaue Trainingsjacke. Allen wurde die Frage gestellt, welche Farbe die Jacke hatte, die der erkannte Lasse R. trug. Die knallrote Trainingsjacke wurde von niemandem erinnert. Mehrheitlich erinnerten sich die Zeug*innen daran, dass er eine dunkle Trainingsjacke trug.

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