Prozessdoku 25. Januar 2024

Achter Verhandlungstag: Prozess um Ausschreitungen 2018 in Chemnitz

Achter Prozesstag am 18.01.2024

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Der achte Prozesstag beginnt erst 9:30 Uhr. Alle Prozessbeteiligte sind pünktlich erschienen.

Zeugenaussage 1 eines ehemalig Mitangeklagten

Der erste Zeuge am achten Verhandlungstag ist Erik H. aus Radebeul. Er war aufgrund desselben Sachverhalt bereits vor der Jugendkammer des Landgerichts Chemnitz angeklagt. Das Verfahren wurde jedoch im Juli 2023 unter Auflagen eingestellt. Der Zeuge hatte versucht durch das Einreichen einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nicht zur Aussage erscheinen zu müssen, wurde aber von der Polizei vorgeführt.

Beim Betreten des Gerichtssaales nickt er dem Angeklagten Timo B. zur Begrüßung kurz zu. Die erste Frage des vorsitzenden Richters, ob er die drei Angeklagten kenne,  verneint er aber. Erst auf mehrfaches Nachfragen des Richters gibt der Zeuge zu, an dem sogenannten Schweigemarsch in Chemnitz teilgenommen zu haben, er sei jedoch allein angereist und habe auch allein an der Demonstration teilgenommen. An den Nachgang der Demonstration könne er sich nicht mehr erinnern – so wisse er heute nicht mehr, wo er danach gewesen sei oder wie er nach Hause gekommen sei. Auch auf die Nachfrage, ob er denn dann die Geldauflage, die für die Einstellung seines Verfahrens verbunden war, einfach so gezahlt habe, antwortet er mit Erinnerungslücken.

Auf weitere Nachfragen des Richters hin rückt der Zeuge von seiner Aussage ab, allein bei der Demonstration gewesen zu sein. Er gibt an, dass ihn ein weiterer ehemaliger Mitangeklagter begleitet habe, mit dem er damals befreundet gewesen wäre.

Angebot der Staatsanwaltschaft

Nach der ersten Zeugenaussage informiert der vorsitzende Richter über die Ladungen weiterer Zeug*innen. Zum Ende des Verhandlungstages will er mitteilen, wie viele Verhandlungstage noch notwendig sein werden. Staatsanwalt Fischer teilt mit, "auch noch etwas Organisatorisches" zu besprechen zu haben.

Der Staatsanwalt wiederholt ein Angebot an die Angeklagten, das er bereits zu Beginn des Prozesses unterbreitet hatte: Er könne sich vorstellen, das Verfahren gegen eine Aussage der Angeklagten und eine Geldauflage, das heißt nach 153 StPO, einzustellen. Als Begründung führt er an, dass für ihn nicht nachgewiesen sei, dass die Angeklagten Waffen bei sich hatten, und die Betroffenen eher psychische als schwerwiegende physische Folgen erlitten hätten. Zudem betrachtet er die Angeklagten eher als Mitläufer und nicht als am Kern des Geschehens Beteiligte. Nur Lasse R., Pierre B. und Girgor K. gelten als Rädelsführer.

Abwägungen der Verteidiger

Kurz nach dem Angebot der Staatsanwaltschaft an die Angeklagten macht Timo B.s Verteidiger, Rechtsanwalt Werner Siebers, klar, verhindern zu wollen, dass sein Mandant in folgenden Verhandlungen als Zeuge gehört wird. Er fragt, ob auf die Aussage der Angeklagten nicht verzichtet werden könne. Der Staatsanwalt verneint dies mit der Begründung, dass er dem Gericht und der Gesellschaft die Wiederholung der gesamten Beweisaufnahme ersparen möchte, falls die Angeklagten die Geldstrafe nicht zahlen würden. Er erwähnt eine Geldstrafe im Bereich zwischen 1.000 und 2.000 €. In der nachfolgenden Pause besprechen sich die Verteidiger*innen mit ihren Mandanten.

Nach einer Pause teilt Rechtsanwalt Narath mit, sich deutlicher über eine mögliche Einstellung austauschen zu wollen. Staatsanwalt Fischer erklärt noch einmal deutlicher, dass er von den Angeklagten eine „Sachverhaltsschilderung“ erwarte. Da es zu diesem Zeitpunkt keine Entscheidung gibt, schlägt der vorsitzende Richter vor, mit dem nächsten Zeugen fortzufahren.

Zeugenaussage 2 eines Polizeibeamten

Als Zeuge betritt ein Polizeibeamter der Polizeidirektion Chemnitz aus Aue den Gerichtssaal. Er wurde am 1. September 2018 zu einem Unterstützungseinsatz nach Chemnitz gerufen und war dort nur in einem kurzen Moment am Einsatz beteiligt. Er wurde damals ins Stadtgebiet geschickt, um in Kontakt zu einer bayrischen Einheit zu treten. An den Sachverhalt selber kann sich der Zeuge nicht mehr erinnern. Er hätte vor Ort nur mit dem Zugführer der Einheit gesprochen und die Fakten mit auf die Dienststelle genommen und dort einen Aktenvermerk gemacht. Nach dem Einsatzende wäre er zurück nach Aue gefahren und habe danach nichts mehr mit dem Verfahren und den Ermittlungen zu tun gehabt.

Was ist eine „Sachverhaltsschilderung“?

Der Verteidiger von Timo B., Rechtsanwalt Siebers, fragt erneut nach der geforderten „Sachverhaltsschilderung“ der Staatsanwaltschaft. Er möchte wissen, ob die Angeklagten für eine Einstellung schildern sollen, wer ebenso an der Tat beteiligt gewesen wäre und was diese Personen gemacht haben sollen oder ob es reichen würde, wenn die Angeklagten zugeben, dass sie dabei gewesen seien. Im Anschluss betont er ebenso deutlich, dass die erste Möglichkeit für ihn und seinen Mandanten nicht in Frage kommen würde. Die Hauptverhandlung wird unterbrochen und die Verteidiger*innen verständigen sich in einem nicht öffentlichen Gespräch mit der Staatsanwaltschaft über den Umfang einer möglichen „Sachverhaltsschilderung“.

Erklärungen der Angeklagten

Alle Erklärungen werden von den Verteidiger*innen der Angeklagten vorgelesen. Die Angeklagten Timo B., Mark B. und Marcel W. bestätigen die Aussagen nur im Nachhinein.

Rechtsanwalt Werner Siebers erklärt für seinen Mandanten Timo B., dass dieser in der Gruppe mitgelaufen sei. Ihm wäre auch bewusst gewesen, dass diese Gruppe bedrohlich gewirkt habe. Dennoch habe er sich nicht distanziert und auch nicht bei Straftaten, die aus dieser Gruppe begangen wurden, entfernt. Wo er damals mit der Gruppe langgelaufen wäre, wüsste er heute nach fünf Jahren nicht mehr, er sei in Chemnitz auch nicht ortskundig.

Rechtsanwalt Wolfram Narath verliest für seinen Mandanten Mark B. eine Erklärung. Auch er habe in Chemnitz an dem Trauermarsch teilgenommen. Dies wäre seine erste Teilnahme an einer solchen öffentlichen Versammlung gewesen. Danach wäre auch er mit der Gruppe mitgelaufen, aber auch er würde den Weg nicht mehr kennen, da er in Chemnitz nicht ortskundig sei. Er gibt in der Erklärung an, dass das Ziel der Bahnhof gewesen sei, um den Heimweg anzutreten. Im Laufe der Zeit wurde die Stimmung in der Gruppe aggressiver und er hätte mehrere Angriffe wahrgenommen, bei denen er aber weder  eingegriffen noch sich  distanziert habe. Er würde einsehen, dass er sich hätte gegenteilig verhalten sollen.

Rechtsanwältin Janine Hilprecht verliest die Erklärung für ihren Mandanten Marcel W. Auch er wäre am 1. September 2018 auf dem Trauermarsch gewesen. Auch für ihn wäre es die erste Veranstaltung gewesen. Am Ende der Veranstaltung wollte er, weil er ortskundig war, der Gruppe den Weg zum Bahnhof zeigen. Ein direkter Weg dorthin war auf Grund des Demonstrationsgeschehens nicht möglich. Er könne sich heute noch daran erinnern an der Moritzstraße Ecke Annenstraße gewesen zu sein, wäre aber nicht beim Park der Opfer des Faschismus oder an der Reitbahnstraße dabei gewesen. Er hätte ebenso mitbekommen, dass die Gruppe, mit der er unterwegs war, auf einen Mann eingeschlagen habe. Auch er hätte sich nicht distanziert. Auch er belastet keine weiteren Angeklagten und sagt aus, er könne sich nicht erinnern, welche Personen gemeinsam mit ihm am Bernsbachplatz festgestellt wurden.

Einstellungen gegen alle drei Angeklagten

Staatsanwalt Fischer stimmt den Einstellungen gegen die Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 1.000€ bei allen drei Angeklagten zu.

Nebenklagevertreterin Dr. Kati Lang erklärt, dass aus Sicht ihres Mandanten der Rechtsfrieden durch eine Einstellung nicht wiederherzustellen ist. Der Angriff wäre ein massiver Eingriff in die Grundrechte gewesen. Ihr Mandant wollte an dem Tag ein Zeichen gegen rechts besonders in Chemnitz setzen und wurde für sein Engagement angegriffen und verletzt. Ihr Mandant hätte nicht über fünf Jahre auf dieses Verfahren gewartet, damit es gegen die Angeklagten eingestellt wird.

Nebenklagevertreterin Kristin Pietrzyk schließt sich Dr. Kati Lang an. Auch sie beschreibt, dass Betroffene insbesondere in Hinblick auf die lange Verfahrensdauer das Verfahren als sehr belastend beschrieben haben. Sie schlägt vor die Geldauflagen der Angeklagten zu Gunsten der Opferberatung, welche die Zeit der langen Verfahrensdauer für die Betroffene überbrückt hätte, auszusprechen.

Nebenklagevertreter Onur U. Özata stellt noch einmal fest, dass die Angeklagten zwar eingeräumt haben, dass sie mitmarschiert sind und dass aus der Gruppe in der sie mitliefen Straftaten passiert wären, aber er kein Bedauern der Angeklagten gehört habe. Es hätte keine Distanzierung von den Taten oder der Gesinnung gegeben.

Nach einer kurzen Pause werden um 12:05 Uhr drei Beschlüsse verkündet. Gegen alle drei Angeklagten wird das Verfahren nach §153a StPO Absatz 2 vorläufig eingestellt. Alle müssen innerhalb von sechs Monaten 1.000€ an Organisationen in der Chemnitzer Region bezahlen. Der vorsitzende Richter erklärt, dass es außer Frage steht, dass es am 1. September 2018 zu Straftaten in der Chemnitzer Innenstadt kam. Jedoch gelte in der Kammer kein Gesinnungsstrafrecht, und er müsse die individuelle Schuld beurteilen und hätte dazu eine umfangreiche Beweisaufnahme getätigt. Im Hinblick auf die individuelle Schuld der Betroffenen kam für ihn die Einstellung in Betracht. Diese Entscheidung hätte jedoch keinen Einfluss auf andere Verfahren. Das Geld würde nicht der Beratungsstelle für Betroffene rechter Gewalt zugutekommen, da diese Stelle schon bei vorherigen Entscheidungen bedacht wurde.

Das Verfahren endet damit, dass der vorsitzende Richter den Angeklagten sagt, er wolle sie „hier nie mehr wiedersehen“.

 

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